Gemeinbleiben

Gemeinbleiben

Laura Strack / Nives Monda
Im Juni 2022 fragte der Workshop Dauerhaft geschlossen? in der Vierten Welt in Berlin danach, wie sich künstlerische (Gegen-)orte zu den Raum- und Stadtpolitiken verhalten, die im Rahmen der Pandemie europaweit etabliert worden sind. Inwiefern haben sich mit den städtischen Öffentlichkeiten auch die Existenz- und Arbeitsbedingungen solcher Orte verändert? Ein Fallbeispiel des Workshops war das Kultur- und Sozialzentrum Asilo im Herzen der Altstadt Neapels. Dessen Träger*innen – eine offene Gemeinschaft aus Bürger*innen und Aktivist*innen – versucht derzeit zu verhindern, dass selbstverwaltete Orte wie das Asilo privatisiert werden, auch wenn das aus Sicht der ausgebluteten Stadtverwaltung lohnend und wünschenswert erscheint.

Seit einigen Jahren gilt Neapel als lebendiges Laboratorium für Gemeingüter und die damit einhergehenden commoning-Strategien. Zu verdanken ist dies selbstverwalteten Orten für Kunst, Stadtpolitik und Soziales wie dem Ex Asilo Filangeri, dem Ex OPG, dem Scugnizzo Liberato, Santa Fede Liberata, Lido Pola und anderen. Unter Bürgermeister Luigi de Magistris wurde der sogenannte uso civico – die selbstverantwortete Nutzung öffentlich geeigneter Immobilien durch eine juristisch nicht näher zu bestimmende Gemeinschaft – per Dekret in die Kommunalverfassung integriert und zur legitimen Praxis bürgerschaftlicher Teilhabe diesseits von Markt und Staat erklärt. Die neue Stadtverwaltung, seit 2021 im Amt, will die Gemeingüter und die darin aktiven Personen nun „einkommensfähig“ machen – das heißt de facto bepreisen und privaten Unternehmensformen einverleiben. Auf diesen „Plan für die Gemeingüter“, den die Kommunalabgeordnete für Stadtplanung Laura Lieto im April 2022 in der Tageszeitung La Repubblica bekanntgab, reagierten die Gemeinschaften der selbstverwalteten Orte mit Entsetzen und Traurigkeit. Der Brief der Bürgerin und Aktivistin Nives Monda, der eine Woche später ebenfalls in La Repubblica erschien, fasst die Sorge der betroffenen Initiativen und Akteur*innen zusammen – und erklärt dabei eindrücklich, worum es bei der Debatte um Gemeingüter und den öffentlichen Raum eigentlich geht.

Sehr geehrte Stadträtin Laura Lieto,
Sie und ich gehören ein- und derselben Generation neapolitanischer Frauen an: Wir haben unsere Lebenswege ausgehend von unserer Ausbildung zur Wendezeit zwischen den 80er und 90er Jahren entworfen, wobei es von Anfang an darum ging, über die eigene Subjektivität hinausgehend zu denken und zu handeln. Schon damals sprachen wir viel über die Zeitlichkeit der Stadt und waren uns einig, dass ihr Rhythmus unbedingt mit den Existenzzeiten der Menschen, deren lokalen Milieus und der Sorge für fruchtbare Prozesse urbaner Regeneration in Einklang gebracht werden sollte. In jenen Jahren entstand in Neapel der heute für selbstverständlich gehaltene Brauch, Silvester in den Straßen zu feiern – damals eine unerhörte Errungenschaft. Auch eindrucksvolle Installationen wie der Salzberg von Mimmo Paladino waren in jener Zeit auf öffentlichen Plätzen zu sehen. Wir waren von der Debatte um den öffentlichen Raum regelrecht besessen, nichts war für uns maßgeblicher als die allgemeine Zugänglichkeit von Orten und Möglichkeiten.
Mit ähnlichen Voraussetzungen also sind wir einander im Laufe der Jahre immer wieder begegnet, im geteilten Bestreben, die Vision einer Urbanität weiblichen Vorzeichens zu stärken – einer Vision von Stadt, in der Sorge und Gastfreundschaft zentral sein sollten, entgegen der fortschreitenden Kommodifizierung von Orten und Beziehungen. Im Licht dieses geteilten Horizonts möchte ich heute einige Anmerkungen zum vorgeschlagenen Plan für den Umgang mit den sogenannten Gemeingütern in Neapel vorbringen.
Die Erfahrungswelt dieser „befreiten“ Räume hat sich mir über verschiedene Gemeinschaftspraktiken geöffnet, über die Solikantine, den Gemeinschaftsgarten oder die schulkritische Nachmittagsbetreuung. Die Kantine ist ein Ort, an dem Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft – Obdachlose, Familien und viele andere – einander anlässlich des Essens begegnen, wobei der Hunger nach Beziehungen fast noch dringender gestillt werden muss als Hunger des Magens. Initiativen wie diese haben einen Wert an sich und sind mit Kriterien der
accountability nicht erfassbar. Es geht um eine Gegenseitigkeit, die nichts anderes und nicht mehr voraussetzt als den Austausch. Die politische Orientierung ist dabei unabdingbar: In den selbstverwalteten Versammlungen etabliert sich die offene Gemeinschaft als Subjekt, das allein notwendig und ausreichend ist, um die Regeneration des Lebens im städtischen Raum zu ermöglichen. Neapel ist eine Stadt aus unzähligen Schichten, die wie dünne Seidenpapierblätter übereinanderliegen, doch der soziale Zusammenhalt in unseren Vierteln ist instabil und kann sich beim kleinsten Windstoß buchstäblich in Luft auflösen: Die Gemeingüter haben in den letzten Jahren wie Kleber zwischen den Seidenpapierblättern gewirkt. Sie haben die ganze Komplexität der „porösen Stadt“ durchlaufen und sich zu eigen gemacht, wodurch häufig eine Art Antikörper gegen soziale Konflikte und die Fragmentierung des städtischen Gewebes entstand. Ein Gemeingut ist ein werdender Organismus und die Gemeinschaft, die für es Sorge trägt, dessen lebendige Lunge.
Gemeingüter zu vermarkten ist in ihrer natürlichen Entwicklung nicht vorgesehen: Die Tatsache, dass es in all diesen Zusammenhängen nie um Professionalisierung ging, stellt keinen Mangel der sie bewohnenden Gemeinschaften dar, sondern vielmehr die einzig mögliche, da stets spontane und unvermittelte Strategie, um das fruchtbare lokale Milieu zu schützen und gedeihen zu lassen, in dem sich die unterschiedlichsten sozialen Komponenten intersektional aufhalten und begegnen können. Es ist ein schwerwiegender Fehler, diesen Prozess für unreif zu halten und zu glauben, seine Praktiken seien „auroral“, also embryonal, unausgereift und nicht ausreichend gefestigt.
Anstatt einen Plan für die existierenden Gemeingüter zu entwickeln, der offensichtlich dazu dienen soll, ihnen eine Form zu geben, die ihre Natur korrumpiert, sollte weiterhin
von unten nach Wegen gesucht werden, die zivilgesellschaftlichen Nutzungen öffentlicher Immobilien zu vervielfältigen, und damit das, was heute – auch in juristischer Hinsicht – eine neues und äußerst zeitgemäßes Paradigma darstellt, auf immer mehr Strukturen anzuwenden. Dadurch würde nicht nur die aktive Teilhabe der Bewohner*innen gefördert, sondern auch die Präsenz der öffentlichen Hand innerhalb der Stadtviertel – kraft einer starken Gemeindeverwaltung – in immer kapillarerer Weise gestärkt.

Nives Monda, Einwohnerin der Altstadt von Neapel


Nives Monda lebt und arbeitet in der Altstadt von Neapel und engagiert sich als Aktivistin für das Recht auf Wohnen insbesondere in touristifizierten Städten. Ihr Brief an die Stadträtin Lieto wurde am 3. Mai 2022 in der italienischen Tageszeitung La Repubblica veröffentlicht, anschließend von den gemeinschaftlich verwalteten Orten verbreitet und lebhaft in den sozialen Netzwerken diskutiert.


Einleitung und Übersetzung aus dem Italienischen von Laura Strack
 
Mo, 08/01/2022 - 13:13
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