Sorge
Sorge
Die Platte, meine Heimat
Text und Foto: Phương Thúy Nguyễn
„Sorge“: meine Platte, meine Heimat, mein Sachsen.
„Sorge“ [1] ist die Plattenbausiedlung, in der meine Eltern vor 34 Jahren landeten. Um für die DDR, um für Vietnam, um für uns und ihre Familien zu arbeiten. Um ihre Mittzwanzigerjahre zu leben.[2]
Vier Jahre nach ihrer Ankunft, wurde auch ich Teil der Sorge.
SORGE
Die Sorge war unsere Heimat aus Watte,
Unsere Traumwelt in der Platte,
Eine Welt, in der wir die Regeln erfanden,
Regeln, die uns ausbrechen ließen
aus dem Leben Dazwischen,
Zwischen Klöße und Phở,
Zwischen Guten Morgen und Chaú chào cô[3],
Zwischen Ausländerkind und Vorbildstochter,
Zwischen sich beweisen und bewahren
- das Gesicht deiner Eltern,
- die Ehre deiner Familie,
- den Aufenthalt in deinem Geburtsland,
... als Vorzeigekanak!
Die Sorge war unsere Freude,
und anderer Kummer,
für uns, unser Vietnam mit Netto,
für sie, ein lautes und dreckiges Ghetto.
Wir spielten Bulle und Verstecker,
machten die Nacht zu unserem Wecker.
Ab und zu wurde Spiel Realität,
verstecken vor Bullen,
wenn Nachbarn Jugendamt spielen wollten.
Die Sorge war unser Zuhause,
unsere Schule,
unser Urlaub.
In den Ferien: Zelten vorm Block,
Eltern arbeiten in Tây Đức[4],
Ihre Heimkehr am Wochenende, was'n Glück!
Dann gab's:
Nen Euro für jede Eins,
und hier und da 10 Cent für Center Shock!
15 Jahre Feriencamp,
Täglich Tag der Offenen Tür,
Spielen und Spinnen, ohne Manier!
Leben mit Freunden,
Lernen fürs Leben,
Lachen Über-Leben.
Arbeitslosigkeit schuf Selbstständigkeit und Fernarbeit,
Co-Elternschaft und Zusammenhalt,
und all das für befristeten Aufenthalt!
Egal! Schuften wir bis der Rücken knallt!
Doch der Knall kam unerwartet bald!
BOOM! Erster Block weggesprengt
Freundinnen weggedrängt
BOOM! Zweiter Block weggesprengt
Noch mehr Freunde verdrängt
Unsere Sorge überschattet mit Sorgen,
Kindheit versenkt.
Mit Feuer und Flammen jagten sie uns weg,
und absolut keiner schaute auf den braunen Dreck.
Unsere heile Welt entflammte mit dem Brand,
Heimat, einfach so gegen die Wand!
Zeit zur Assimilation des „Abschaums“!
Heimat wurde Albtraum.
Mit Krisen und Fragen überquellt:
Warum hier? Warum wir?
Wo ist mein Platz?
Wie heilt mensch diese Welt?
(2020)
Phương Thúy ist als älteste Tochter vietnamesischer Eltern in einer Kleinstadt in Sachsen aufgewachsen. Seit ihrer Jugend ist sie anti-rassistisch aktiv, und gründete 2016 mit Freund*innen die Werdauer Initiative gegen Rassismus (W.I.R.). Heute arbeitet sie in der Wissenschaft, politischen Bildung und im Kunst-/Kulturbereich, und setzt sich weiterhin für eine befreite Gesellschaft jenseits von Kapitalismus, Rassismus und anderen Unterdrückungsverhältnissen ein.
[1] Benannt nach Richard Sorge, deutscher Kommunist, Schriftsteller und für den sowjetischen Militärgeheimdienst tätiger Agent und Spion.
[2] Mehr zu „Sorge“ und der Story unserer Community unter: www.sorge87.de, und im Kurzfilm „Sorge 87“.
[3] Vietnamesisch für: „Ich grüße dich Tante!“
[4] Vietnamesisch für: Westdeutschland.
„Sorge“ [1] ist die Plattenbausiedlung, in der meine Eltern vor 34 Jahren landeten. Um für die DDR, um für Vietnam, um für uns und ihre Familien zu arbeiten. Um ihre Mittzwanzigerjahre zu leben.[2]
Vier Jahre nach ihrer Ankunft, wurde auch ich Teil der Sorge.
SORGE
Die Sorge war unsere Heimat aus Watte,
Unsere Traumwelt in der Platte,
Eine Welt, in der wir die Regeln erfanden,
Regeln, die uns ausbrechen ließen
aus dem Leben Dazwischen,
Zwischen Klöße und Phở,
Zwischen Guten Morgen und Chaú chào cô[3],
Zwischen Ausländerkind und Vorbildstochter,
Zwischen sich beweisen und bewahren
- das Gesicht deiner Eltern,
- die Ehre deiner Familie,
- den Aufenthalt in deinem Geburtsland,
... als Vorzeigekanak!
Die Sorge war unsere Freude,
und anderer Kummer,
für uns, unser Vietnam mit Netto,
für sie, ein lautes und dreckiges Ghetto.
Wir spielten Bulle und Verstecker,
machten die Nacht zu unserem Wecker.
Ab und zu wurde Spiel Realität,
verstecken vor Bullen,
wenn Nachbarn Jugendamt spielen wollten.
Die Sorge war unser Zuhause,
unsere Schule,
unser Urlaub.
In den Ferien: Zelten vorm Block,
Eltern arbeiten in Tây Đức[4],
Ihre Heimkehr am Wochenende, was'n Glück!
Dann gab's:
Nen Euro für jede Eins,
und hier und da 10 Cent für Center Shock!
15 Jahre Feriencamp,
Täglich Tag der Offenen Tür,
Spielen und Spinnen, ohne Manier!
Leben mit Freunden,
Lernen fürs Leben,
Lachen Über-Leben.
Arbeitslosigkeit schuf Selbstständigkeit und Fernarbeit,
Co-Elternschaft und Zusammenhalt,
und all das für befristeten Aufenthalt!
Egal! Schuften wir bis der Rücken knallt!
Doch der Knall kam unerwartet bald!
BOOM! Erster Block weggesprengt
Freundinnen weggedrängt
BOOM! Zweiter Block weggesprengt
Noch mehr Freunde verdrängt
Unsere Sorge überschattet mit Sorgen,
Kindheit versenkt.
Mit Feuer und Flammen jagten sie uns weg,
und absolut keiner schaute auf den braunen Dreck.
Unsere heile Welt entflammte mit dem Brand,
Heimat, einfach so gegen die Wand!
Zeit zur Assimilation des „Abschaums“!
Heimat wurde Albtraum.
Mit Krisen und Fragen überquellt:
Warum hier? Warum wir?
Wo ist mein Platz?
Wie heilt mensch diese Welt?
(2020)
Phương Thúy ist als älteste Tochter vietnamesischer Eltern in einer Kleinstadt in Sachsen aufgewachsen. Seit ihrer Jugend ist sie anti-rassistisch aktiv, und gründete 2016 mit Freund*innen die Werdauer Initiative gegen Rassismus (W.I.R.). Heute arbeitet sie in der Wissenschaft, politischen Bildung und im Kunst-/Kulturbereich, und setzt sich weiterhin für eine befreite Gesellschaft jenseits von Kapitalismus, Rassismus und anderen Unterdrückungsverhältnissen ein.
[1] Benannt nach Richard Sorge, deutscher Kommunist, Schriftsteller und für den sowjetischen Militärgeheimdienst tätiger Agent und Spion.
[2] Mehr zu „Sorge“ und der Story unserer Community unter: www.sorge87.de, und im Kurzfilm „Sorge 87“.
[3] Vietnamesisch für: „Ich grüße dich Tante!“
[4] Vietnamesisch für: Westdeutschland.
