The Power of BINTUS

Schwerpunkt: Märkte

The Power of BINTUS

Eine Reise zum Broadway Neuköllns
Laura Kemmer und Malte Bergmann

Der Marktschreier Berlins ist stumm. Aus eckig-roten Sprechblasen fordert er Ankommende an Autobahnausfahrten, Flughäfen und Bahnhofswänden per Slogan auf: “sei aufwind, sei vielfalt, sei berlin”. Vom neuen Flughafen Berlin-Brandenburg wird Reisende künftig der direkte Weg in die Stadt durch Neukölln führen, vorbei an den Reihenhaussiedlungen von Britz und Rudow. Hier leben viele, denen das innenstädtische Leben zu unübersichtlich geworden ist. Vorbei an den Sozialbauten von Gropiusstadt, dem Geburtsort von Christiane F. aus „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ geht es weiter Richtung Zentrum. Die glitzernde Spitze des Eisberges „Neukölln“ liegt jenseits der symbolischen Grenze des Berliner S-Bahn Rings. Bunte Leuchtwände rahmen die Tunneleinfahrt „Neuköllner Tor“ und somit den südlichen Eingang zu dem jüngst im „Guardian“ als „epicentre of cool“ beworbenen Stadtteil. Diesen Imagewechsel des über lange Jahre als „Problemkiez“ verrufenen Neukölln nutzen auch die Stadtplanerinnen und Marketingexperten der „Aktion! Karl-Marx-Straße“, um die wirtschaftliche Attraktivität des Standortes zu steigern. Ähnlich wie ihr großer Bruder, die Sprechblasenkampagne „beBerlin“, bewirbt auch die Neuköllner „Aktion!“ seit 2010 die Vielfalt der Herkünfte und Nutzungen in der Straße. Für unseren Reisebericht begeben wir uns auf die Suche nach der Karl-Marx Straße hinter ihrer vermarkteten Fassade.

 

Die (post-)migrantischen Kleingewerbetreibenden halten das Geschäftszentrum lebendig

 

Am Ausgang der U-Bahn Station „Rathaus Neukölln“ erinnert uns der bröckelnde Putz an den Vorderseiten der wilhelminischen Prachtbauten und gründerzeitlichen Gebäude nur bruchstückhaft an alte Zeiten, während die jüngere Vergangenheit der Nachkriegs-Einkaufsstraße noch gut erkennbar ist. Neben der leerstehenden Post im kaisertreuen Neobarock stand bis vor einigen Jahren noch ein C&A-Kaufhaus. Auch dieses ist heute ungenutzt und erregt in seiner verlassenen Klumpigkeit beinahe Mitleid. Zwar findet sich in der Karl-Marx-Straße nach dem Kurfürstendamm und der Schloßstraße die höchste Ladendichte Berlins. Von der klassischen westdeutschen Einzelhandelsstruktur, die noch bis nach dem Fall der Mauer Besucher aus Berlin und Umgebung anzog, sehen wir nur noch wenig. Nach dem Wegzug der Mittelschicht an den Rand der Stadt ist ein Publikum mit geringerer Kaufkraft geblieben. Heute kommen die Menschen für günstige Handys und Elektroartikel, aber auch für Kleidung à la “Sexy Way of Princess” mit anschließender Teepause im luxuriös aufgemachten “Simit Sarayi” (Simit-Palast). Es sind die (post-)migrantischen Kleingewerbetreibenden, die Neuköllns Geschäftszentrum lebendig halten. Sie waren die Pioniere für jene Entwicklungen, welche die Karl-Marx Straße heute in den geografischen Mittelpunkt einer Szene rücken, die morgens im nordöstlichen “Kreuzkölln” am Maybachufer zum “BiOriental”-Markt flaniert oder sich abends im westlichen „Schillerkiez“ an den Rändern des stillgelegten Tempelhofer Flugfeldes trifft.

 

Nur bunte Staffage?

 

Von einer gezielten Förderung oder Aufwertung dieser Gewerbe ist im Hochglanzmagazin „Broadway Neukölln“ der „Aktion! Karl-Marx-Straße“ nichts zu lesen. Auch bei den Treffen der um Partizipation bemühten Kampagne finden wir weder die Betreiberinnen des japanischen Restaurants am „Rathaus Neukölln“ noch den türkischen Buchhändler, dessen Geschäft uns eine Bahnstation weiter aufgefallen ist. Es drängen sich Zweifel auf, ob die vielfältigen Herkünfte und Nutzungen nicht bloß als Staffage für eine „bunte Umdeutung“ der Straße dienen. Um Erinnerungen an Zeiten blühenden Handels wieder aufleben zu lassen, betreibt die Marketingkampagne nicht nur verbales Stadtmarketing. Es geht auch um die bauliche Veränderung der Straße, deren mittlerer Abschnitt für die „Aktion!“ besonders interessant ist. Hier finden sich Einkaufzentren, die Neuköllner Oper und seit kürzerem auch Bars und Clubs mit Swingabenden oder urban gardening-Projekten für die wachsende Zahl junger Neuankömmlinge im Kiez. Kulturelle Vielfalt und Handel geben ein gutes Tandem ab, das Konzept der Marketingkampagne scheint aufzugehen.

 

Als „Leuchtturmprojekt“ der „Aktion! Karl-Marx-Straße“ gilt der, im Stadtbild recht unscheinbar wirkende „Platz der Stadt Hof“ im Zentrum dieses mittleren Bereichs. Hier soll der Imagewechsel Neuköllns auch räumlich sichtbar werden, um Vielfalt selbstbewusst als Standortfaktor zu inszenieren. Im Frühjahr noch baute eine Aktionskünstlerin Sandburgen zwischen den herausgerissenen Pflastersteinen und bereits im August setzte Bürgermeister Buschkowsky den ersten Spatenstich. (Fotos: http://2dotsoe.tumblr.com/post/70191236526/blowing-castles-sand-melting-point-1710-c und http://2dotsoe.tumblr.com/post/43248386443/blowing-castles-sand-melting-point-1710-c)Die stets um Teilnahme bemühte „Aktion!“ hatte zuvor einen Namenswettbewerb ausgeschrieben und aus den eingesandten Vorschlägen schließlich Favoriten wie “Platz der Toleranz”, “Platz der Kulturen“ und “Platz der Vielfalt” ausgewählt. Die Lieblingswörter der Kampagne sind zur Designdirektive geworden: Ein “demographisches Pflaster” soll künftig unter den Füßen der vorbeibummelnden Neuköllnerinnen deren vielfältige Herkünfte abbilden. Entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung werden sich bunte Pflastersteine aus verschiedenen Weltregionen mit der grauen Einheitlichkeit des gewohnten Bodenbelages mischen, um ein Denkmal “von Neuköllnern für Neuköllner” zu setzen.

 

Hier entsteht ein ganz eigener Sound

 

Hinter der Baustelle, in den Nebenstraßen des Neuköllner Broadways wirken die Fassaden weniger bunt. Der rote Schriftzug an der Hauswand des „Vor-Ort“-Büros der Marketingkampagne durchbricht die farblose Eintönigkeit mit dem Motto der „Aktion!“: “jung, bunt, erfolgr...” steht dort, zum Ende hin verdeckt von den Spuren eines roten Farbbeutels. Unsere Blicke wandern weiter und treffen ein aus Holzlatten gezimmertes Ladenschild. Hinter den Lettern BINTUS biegen sich die Regale unter einer beeindruckenden Auswahl an Mate-Tees aus ganz Lateinamerika, daneben duften indische Gewürzmischungen, frische Okraschoten und Kochbananen.

 

Nach einem ersten Probierschluck seiner neuesten Mate-Spezialität erklärt uns Ladenbesitzer John lachend, was das Motto der „Aktion! Karl-Marx-Straße“ für ihn bedeutet: „Das bin ich. Ich bin jung, ein erfolgreicher Visionär ... und bunt bin ich auch“. Zeitgleich mit der Marketingkampagne zog auch John mit seinem Ladenkonzept von Köln nach Neukölln. Der ehemalige Profiboxer wählte neben dem Ort auch den Namen seines Geschäfts als Metapher für die Verbindung von Erinnerungen und Zukunftsvisionen: In ihrer Jugend hat seine Mutter, genannt “Bintus”, im Kongo als Lebensmittelhändlerin gearbeitet. Heute berät sie die Kundinnen von BINTUS mit viel Wissen und Witz zu der Produktpalette aus allen Weltregionen. Trotzdem versteht John sein Sortiment nicht als „Heimatprodukte“, wie jüngst in der Zeitung des lokalen Quartiersmanagements beworben. Es geht um die Vision, sagt der Ladenbesitzer, und die ist wandelbar.

 

John hat seine Produktpalette erweitert: Neben Lebensmitteln aus allen Weltregionen gibt es nun auch Ledertaschen und Klamotten aus anderen Zeiten. Zwei Häuser verkaufen auch die Betreiber des Sameheads den hippen Retro-Look. Im „Broadway Neukölln“ wird die „Fashion-Art-Café-Event-Location“ hierfür als Geheimtipp „in der 2. Reihe der Karl-Marx-Straße“ beworben. Das Zusammentreffen der drei Sameheads-Brüder aus England mit John aus Köln hat allerdings unabhängig von der „Aktion!“ stattgefunden. Längst ist der “Congolese acid warrior” Bintus zum Pseudonym für das DJ-Projekt eines Sameheads geworden. Hier entsteht ein gemeinsamer, ganz eigener Sound, der wenig gemein hat mit dem Grundklang, den die lokale Stadtpolitik in ihrer Vermarktungskampagne anstimmt, um das mosaikartige Nebeneinander harmlos-bunter Vielfalt zu bewerben. Auf dem Cover der Platte heißt es: „Having now known the power of Bintus, the world will look upon him in fear and awe”.

 

 

 

 

 

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