Rumble in the Urban Jungle

Schwerpunkt: Kampfzone Berlin

Rumble in the Urban Jungle

Die Köpenicker Straße, Teil 1
Hannes Obens und Anna-Lena Wenzel, Fotos: Tassilo Letzel

Sie ist keine Schönheit, ohne Harmonie und voller Narben. Sie trägt oft Grau, neuerdings auch mal Lachsrosa oder Mintgrün. Aber wer genau hinsieht, entdeckt ihren Reiz. Auch wenn man sie schon oft gesehen hat, lernt man sie doch nie ganz kennen. Auf ihren gut zwei Kilometern, am südlichen Spreeufer zwischen Kreuzberg und Mitte, gibt es einfach zu viel zu entdecken. Auch unser Spaziergang durch die Straße in zwei Folgen wird darum unvollständig bleiben.

 

Die Köpenicker Straße ist "New Berlin" und das alte Berlin zugleich, ein Ort krachender Gegensätze und Widersprüche ohne Schminke – und somit inzwischen einmalig im Berliner Zentrum. Mancherorts atmet sie noch das morbide Berlin der 80er, während gleich nebenan große Immobilienprojekte von den Verheißungen oder Verheerungen der Zukunft künden. Hier prallt Platte auf Technoclub, besetzte Brache auf Luxusloft und Edelrestaurant auf Revolutionssymbolik.

 

Vom Dead End zum place to be

 

Früher eine Prachtstraße, die im Kaiserreich und in der Weimarer Republik mit herrschaftlichen Häusern und schönen Cafés lockte, wurde sie durch den Mauerbau auf halber Höhe geteilt und trennte fortan Ost- und West-Berlin, Mitte und Kreuzberg. Die West-Berliner Seite in Kreuzberg war ein Dead End, ein durch die Mauer auf drei Seiten isoliertes Biotop für (Lebens-)künstler, Hausbesetzer und Junkies. Heute ist sie wieder ein "place to be", eine Straße, deren rauer, authentisch wirkender Berliner Charme Touristen und Party-People anzieht. Jeder, der hier eine Weile wohnt, wird schon mal von Punks aus Polen oder Spanien "Excuse me, where is Köpi?", gefragt worden sein oder einigen etwas bräsigen Leuten den Weg ins "Spindler & Klatt" gewiesen haben.

 

Die bewegte Geschichte der Straße ist in ihre heterogenen Grundstücke, Häuser und Fassaden eingeschrieben. Am Beispiel einzelner Gebäude werden wir von den städtischen Kämpfen der Gegenwart erzählen. Von Verdrängungsmechanismen und Verhinderungstaktiken, Besetzertradition und Guerilla-Marketing-Aktionen, dumpfer Zerstörungswut und solidarischer Neugestaltung.

 

Unser Spaziergang beginnt östlich vom U-Bahnhof Schlesisches Tor. Eine Kreuzung trennt sie von der Schlesischen Straße, die schon seit einigen Jahren mit ihren Clubs im typischen Bretterbuden-Stil das Image Berlins als alternative Partyhauptstadt an junge Touristen verkauft, die den Underground suchen, aber dort nur ein touristisches Disneyland finden. Die Köpenicker Straße beginnt dagegen unaufgeregt, ohne sichtbare Spannungen oder Brüche, nimmt dann aber den Verlauf einer Fieberkurve: sie steigt bis zum Höhepunkt, um dann mit einigen Ausschlägen wieder abzuflauen. Nach ein paar Metern auf ihrer Spreeseite verkündet über einem wild bewachsenen Areal ein Schild mit bunten handgeschriebenen Lettern den Zirkus „Schatzinsel“. Der „Verein zur Überwindung der Schwerkraft“ verfolgt das Ziel, „Kindern und Jugendlichen in Berlin-Kreuzberg den Freiraum [zu] geben, ihre Ideen zu verwirklichen, Initiative zu entwickeln, sich auszuprobieren und einfach Circus zu machen.“ Ein Relikt aus den Zeiten, in denen Kreuzberg für seine alternative Lebenskultur, für Selbstorganisation und anti-autoritäre Strukturen bekannt war.

 

Hotspot für Spekulanten

 

Auf der gegenüberliegenden Seite glitzert der legendäre Graffiti-Shop Overkill, der gern mit seinem alten Underground-Sprayer-Image kokettiert, heute allerdings vor allem Nike-Schuhe für bis zu 200 Euro an Jugendliche verkauft. Ein paar Meter weiter wirds schon interessanter: in einem großen alten Haus mit Putzfassade ist der Jugendladen TEK untergebracht, der vor vielen Jahren von der schicker werdenden Oranienstraße in die Köpenicker Straße ausweichen musste. Hier gab es noch Platz. Der Laden ist bekannt für sein politisches Engagement, wendet sich gegen Rassismus und Sexismus, bietet Möglichkeiten zum Musikmachen und Siebdrucken an.

 

Vorbei an einer Reihe eindrucksvoller Gründerzeithäuser, steht auf der anderen Seite verloren auf einem großen unbebauten Grundstück ein provisorischer Netto-Supermarkt. Der Vorgängerbau war bei einem mysteriösen Großbrand im Januar 2014 vollständig abgebrannt. Die Feuerwehr suchte im Anschluss nach einer 30-köpfigen Partygesellschaft, die sich zum Zeitpunkt vor Ort aufgehalten haben soll. Es wurde von Brandstiftung ausgegangen. Das Areal mit Spreezugang ist heiß umkämpft: die Nutzungsrechte von Tengelmann gehen noch bis ins Jahr 2023, danach soll es großflächig bebaut werden. Der halbherzig aufgebaute Netto-Markt glaubt selbst nicht an ein langes Leben, man soll darüber manchmal Geier kreisen sehen. Mit ihren Brachen und Lücken ist insbesondere die Spreeseite der Köpenicker Straße ein Hotspot für Spekulanten.

 

Schon am Eingang des Grundstücks daneben, das der Umzugsfirma Zapf gehört, wird klar, dass hier irgendwas anders ist: Auf dem Firmengelände steht eine liebevoll gepflegte, über drei Meter hohe Leninstatue aus Bronze. Der Firmenchef, Klaus Zapf, war eine schillernde Persönlichkeit. Er inszenierte sich in der Öffentlichkeit gern als ruppiger Boss mit langem Bart, mal großzügig, mal knallhart, war ein Firmenpatron mit der ihm eigenen Mischung aus Liebenswürdigkeit und launigem Despotismus. „Bei mir arbeitet die proletarische Elite“, sagte er nicht ohne Stolz. Gleichzeitig war er als Berufskläger berüchtigt. Seit 2011 gibt es Pläne das Grundstück zu verkaufen und ein Wohnquartier zu errichten. Proteste, unter anderem von „Mediaspree versenken", hatten dafür gesorgt, dass die Pläne überarbeitet wurden. Doch auch die neuen Pläne, die 2013 vorgestellt wurden, liegen brach. Das brachte die B.Z. dazu, gegen eine „Handvoll Fanatiker von dem Grüppchen ‚Media Spree versenken‘“, zu wettern, „die bisher jeden Plan an den Spreeufern in Friedrichshain-Kreuzberg vereiteln konnten.“

 

Direkt neben dem „kommunistischen“ Zapf-Gelände befindet sich in der ehemaligen Heeresbäckerei des wilhelminischen Militärs  ein inzwischen in die Jahre gekommener Club mit „Erlebnisgastronomie“, das Spindler & Klatt. Im vorderen Teil finden inzwischen regelmäßig Events wie Abi-Partys statt und sorgen für einen noch ungewohnt regen Taxiverkehr auf der Straße.

In einem anderen Backsteingebäude mit der Nr. 20 hat der Online-Versandhändler Zalando ein Outlet eröffnet, zu dem am Wochenende die Schnäppchenjäger pilgern, um das passende Outfit für die weiter hinten liegende Party-Location des Sage mit Spree-Strand zu ergattern.

 

Polit-Graffiti gegen Guerilla-Marketing

 

Auf dem weitläufigen Nachbargrundstück, dem Behala (Berliner Hafen- und Lagerhausgesellschaft) -Gelände, steht der große denkmalgeschützte Viktoria-Speicher, er  beherbergt unter anderem eine „Papierbank“ für das Recycling von Zeitungen. 2012 erwarb die Schimmang Spreepark GmbH aus Stuttgart das Gelände. Schimmang plant an der Schillingbrücke ein Hotel oder Ärztehaus und auf dem Gelände Vier- bis Neungeschosser mit Büros, Läden und bis zu 580 Wohnungen. Doch den Plänen steht die sogenannte Seveso-II-Richtlinie der EU entgegen. Sie besagt, dass erst in „angemessenem Abstand“ zu einem „Störfallbetrieb“ Bauvorhaben genehmigt werden können. Blöd nur, dass direkt gegenüber dem Behala-Gelände die Kläke GmbH Oberflächentechnik betreibt und als Galvanisierungsbetrieb ein potentieller Störfallbetrieb ist. Trotz lukrativer Angebote lehnt der Familienbetrieb einen Umzug bisher ab.

 

Neben dem Behala-Gelände marschiert man an einem langgestreckten unscheinbaren Gebäude vorbei, das an vorstädtische Industrieparks erinnert. Im Innenhof beherbergt es Getränkemärkte und eine Autovermietung. Das Gelände ist unwirtlich, obwohl es direkten Spreezugang hat und alte Mauerstücke von der Zeit der Teilung erzählen. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Zumindest noch: denn hier direkt an der Schillingbrücke, wo  früher die Grenze verlief, wird hart um die Grundstücke am Wasser gekämpft.

 

Auf der gegenüberliegenden Seite werden ganz andere Kämpfe ausgefochten. An der Ecke zum Bethaniendamm stehend, blickt man auf eine große Fassade, auf der seit 2008 der Spruch „Die Grenze verläuft nicht zwischen oben und unten sondern zwischen mir und dir“ geschrieben stand. Er war eine Reaktion auf das Verschwinden der ehemals gegenüberliegenden Wandspruchikone „Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern sondern zwischen oben und unten“ von Eric Winkler. 2014 übermalte die Werbeagentur GRACO (ehemals „Graffiti Connection“) kurz vor der WM die Wand mit einem Fußballmotiv. Obwohl ohne Markenlogo, wurde schnell klar, dass es sich um Werbung handelte. Weil diese behördlich verboten ist, hatte GRACO das Motiv als Kunstaktion deklariert und hatte so die Genehmigung vom Bezirksamt bekommen. Durch Anfrage beim Bezirksamt flog die Täuschung auf und GRACO entfernte die Werbung freiwillig.

 

Unsere Fieberkurve steigt hier, ungefähr auf halber Höhe der Köpenicker Straße, immer weiter an, ihren Höhepunkt erreicht sie gleich hinter der Brücke auf der anderen Seite. Für uns ist der frühere Mauerverlauf auch die Grenze für den ersten Teil unserer Expedition in die heiß umkämpfte Köpenicker Straße.

Kurzbeiträge

Einwürfe

Spaces of Solidarity Der Kiosk of Solidarity macht Station in einer Ausstellung im Deutschen Architektur Zentrum
Parasite Parking Logbuch einer öffentlichen Intervention von Alexander Sacharow und Jakob Wirth

Fundsachen

found footage-sculptures Patrick Borchers unterwegs in Neapels Straßen
Dickpic-Galerie Die Journalistin Anne Waak postet a

Straßenszenen

Asphaltrisse Risse in Berliner Straßen fotografiert von Heide Pawlzik.
Neun falsche Hennen Die Welcomecitygroup feiert Junggesellinenabschied auf der Reeperbahn in Hamburg
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Die Fotos und der Text stammen au

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