Von Träumen, Netzwerken und Küchenkellern

Schwerpunkt: Märkte

Von Träumen, Netzwerken und Küchenkellern

Papierlos in Deutschland
Hannes Obens / Fotos: Lena Grass

Bei herbstlichen Windböen, die uns Regentropfen ins Gesicht peitschen, treffe ich Jonathan[1] in einem Ausgehviertel einer deutschen Großstadt. Wir sind beide ein wenig verlegen und ringen um Gesprächsthemen, es ist unser erstes Treffen zu zweit. Weil Fußball immer geht, stelle ich ihm dann die Frage: „Cristiano Ronaldo oder Lionel Messi?“, die eigentlich gar keine ist. Während ich achtlos eine kleine Straße überquere, stoppt Jonathan vor der roten Ampel, obwohl weder links noch rechts ein Auto zu sehen ist. Ich hätte es mir denken können: Er würde nie bei Rot über die Straße gehen, auch nie ohne Fahrschein mit der U-Bahn fahren. Obwohl er im Alltag so penibel gesetzestreu ist, dass man sich neben ihm schnell wie ein Desperado fühlen kann, verstößt er doch jeden Tag gegen deutsches Recht, denn Jonathan kommt aus Westafrika und darf nicht in diesem Land sein. Wie er leben bis zu eine Million Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus in Deutschland; laut- und stimmlos in den Nischen und Hinterhöfen der Gesellschaft, aber dennoch mitten unter uns.

 

Jonathans Leben ist nicht leicht. Er ist bereit, jede Arbeit anzunehmen, tags oder nachts, ob als Tellerwäscher oder Putzmann. Zum Jobcenter würde er nie gehen, weil ihn da keine Hilfe, sondern die Polizei erwartet. Die permanente Unsicherheit und Unplanbarkeit des nächsten Tages setzt ihm zu wie auch der jahrelange Verzicht auf die Familie. Dennoch braucht er kein Mitleid. Er ist optimistisch, intelligent, mehrsprachig und inzwischen gut vernetzt in ganz Europa. Und er hat ein Ziel, das er konsequent verfolgt: durch Handel – am besten „irgendwas mit Im- und Export“ – 30.000 oder 40.000 Euro sparen und wieder nach Afrika zurückkehren. Dort will er dann mit dem Startkapital ein eigenes Unternehmen aufbauen. Wie ein beinharter Glücksritter wirkt Jonathan aber keineswegs, dafür ist er zu schüchtern, viel zu freundlich, ja fast zu weich, so dass ich bei seinen Schilderungen oft nicht so recht weiß, ob er gerade träumt, hofft oder nüchtern kalkuliert.

 

Die Stadt bietet Schutz, Chancen und natürlich Jobs

 

Wir gehen in ein Café und reden über die Stadt. Ich will wissen, was sie für ihn bedeutet: Freunde treffen, sagt er, auch aus der Heimat, Schutz vor zu neugierigen Blicken und zu vielen Fragen – auch vor Rassisten fühlt Jonathan sich in seiner Stadt recht sicher und so verlässt er sie nur selten. Vor allem aber bietet sie ihm Chancen, Netzwerke und natürlich Jobs. Für Jonathan, so scheint mir, ist die Stadt und eigentlich sein ganzes Leben ein einziger großer Markt, auf dem er noch seinen Platz, seine Marktlücke, sucht.

Nach langem Hin und Her treffen wir uns einige Wochen später wieder. Ich habe ihn gebeten mir Orte zu zeigen, die er oft besucht und begleite ihn zu einem Markt in einem Hinterhof, der auf den Export von Gebrauchtwagen spezialisiert ist. Jonathan wickelt hier Geschäfte für Freunde und Kunden in Afrika ab. Der Ort erinnert an Tatort-Kulissen aus den 80er Jahren; allerdings klingt es hier nicht nach Ruhrpott, sondern nach der weiten Welt: Französisch, Englisch und afrikanische Sprachen sind zu hören. Zwischendurch immer wieder Händeschütteln, Smalltalk, Handyklingeln. Jonathans Wagen ist wie viele der umstehenden Autos randvoll mit allen möglichen Produkten, vor allem aber Flachbildfernsehern und Elektrogeräten, gefüllt. Einer seiner Freunde stößt zu uns. Für ihn hat er einen Stromgenerator gekauft, der auch in dem Auto nach Afrika transportiert werden soll. Ich gebe es langsam auf, die vielfältigen Beziehungen und Geschäfte entwirren zu wollen, die mit dem Kauf und Export eines Autos nach Afrika verbunden sind. Jonathan ist sichtlich zufrieden, alles scheint unter Dach und Fach zu sein.

 

Wir verlassen den Marktplatz im Hinterhof und fahren in eine Wohnung am anderen Ende der Stadt, die sich als ein afrikanischer Community- und Geschäftstreff herausstellt. Ein großer Raum ist Businesszentrale, Kontaktbörse und Begegnungsort zugleich. Ein Mann sitzt ununterbrochen am PC und durchforstet Internetplattformen nach Gebrauchtwagen, der Fernseher läuft und zeigt abwechselnd Fußball und afrikanischen Pop, überall liegen Handys rum, ein Kleinkind lümmelt sich auf einer Couch. Im Minutentakt kommen und gehen Leute, immer wieder Hände schütteln, allerdings nur leicht, eher angedeutet. Unerwartet richtet der Gastgeber freundliche Worte an mich und lädt zum Essen ein, ablehnen ist ausgeschlossen. Der geplante Besuch von Läden für Second-Hand-Kleidung fällt spätestens jetzt ins Wasser. Altkleider sind ein großes Exportbusiness, Jonathan kauft sie üblicherweise in großen Mengen mit Rabatt. Die vielen Eindrücke haben mich einigermaßen erschöpft und nach einigen Anläufen gelingt es mir Jonathan zum Abgang zu bewegen. Nach der Verabschiedung kommen wir ins Reden.

 

Ein Leben wie ein Slalomlauf vorbei an Verbotsschildern

 

Ich will wissen, wie er es schafft über die Runden zu kommen ohne Zugang zum regulären Arbeits- und Wohnungsmarkt. Er erzählt von informellen Netzwerken und Handelsbörsen, die es für praktisch alles gibt. Freunde mieten eine Wohnung für ihn an und ein Bekannter überlässt ihm seine Lohnsteuerkarte  – dafür muss Jonathan ihn an seinem Lohn beteiligen. Die Lohnsteuerkarte ist das Ticket für Jobs. In der Untergrundökonomie wird sie schwunghaft gehandelt. Jonathan improvisiert und manövriert sich geschickt durch das Leben, das oft einem Slalomlauf vorbei an Verbotsschildern gleicht. Die Erfahrung lehrt ihn, auf eine geschlossene Tür folgt fast immer noch eine Hintertür, die einen Spalt breit geöffnet ist. Es gibt auch immer einen inoffiziellen Weg. Dabei stützt er sich auf seine guten Netzwerke, die sein größtes Kapital sind. Durch die Hilfe von Freunden und Bekannten fand er Ärzte, die sich unbürokratisch um ihn kümmern und auch mehrere Jobs, z.B. bei einem Verein, der ihn zu vergleichsweise guten Konditionen beschäftigt. So kommt er zwar über die Runden, kann sich aber keine großen Sprünge leisten, da er seiner Familie in Afrika monatlich Geld schickt und vor allem den Inhaber der Lohnsteuerkarte bezahlen muss. Seinem Ziel, genug Startkapital anzuhäufen, nähert er sich nur quälend langsam; außerdem droht ja immer noch die Polizei, der permanente Unsicherheitsfaktor in seinem Leben. Allerdings ist er in dieser Hinsicht recht gelassen. Er glaubt, dass man ihn nicht erwischt, solange er keine Fehler macht, sich nichts zu Schulden kommen lässt.

 

Öffentliche Parks als No-Go-Areas

 

Er muss so unauffällig sein wie man eben als Schwarzer in Deutschland sein kann. Dafür gilt es bestimmte Regeln zu beachten. Das A und O seines Sicherheitskonzepts ist eine räumliche Gliederung der Stadt in sichere und unsichere Gegenden. No-Go-Areas sind dabei Orte mit besonders hoher Polizeidichte und Kontrollwahrscheinlichkeit wie einige eher zwielichtige Plätze und bestimmte Bahnhöfe. Jonathans spezielle Geografie der Stadt wirkt sich auch auf unseren gemeinsamen Tag aus: weil er nicht durch einen Park gehen wollte, in dem gedealt wird, verspätete er sich bei unserem Treffen. Für einen Afrikaner ohne Papiere kann aus einem Stadtpark schnell eine Stress- und Gefahrenzone werden. Bei unserem zweiten Treffen habe ich mich auch mit der Straßenverkehrsordnung arrangiert und bleibe brav vor wirklich jeder roten Ampel stehen.

 

Viel mehr als die Polizei beschäftigt Jonathan aber der zu erwartende Verlust seiner gemieteten Lohnsteuerkarte wegen Geld-Streitereien. Denn obwohl er in Folge eines Arbeitsunfalls mehrere Wochen arbeitsunfähig war, beansprucht sein „Papier-Vermieter“ die vollständige Kompensation seines „Verdienstausfalls“ und droht mit dem Entzug des lebenswichtigen Dokuments. Er versucht nun verzweifelt seine drei Arbeitgeber davon zu überzeugen ihn zumindest eine Zeit lang auch ohne Lohnsteuerkarte weiter zu beschäftigen. Dabei hatte Jonathan bei seiner Verletzung eigentlich noch Glück im Unglück, seine Netzwerke fingen ihn auf. Ein vermögender Landsmann hielt ihn über Wasser und einer seiner Arbeitgeber, der Verein, zahlte ihm Krankengeld – eine absolute Ausnahme. Inzwischen wieder arbeitsfähig, weiß er aber genau, dass es so nicht weitergehen kann: er braucht den legalen Status, die Papiere, er muss auf eigene Rechnung verdienen.

Um die Dokumente zu bekommen, wird er sich auf einem anderen Markt umsehen: dem Heiratsmarkt. Von einem Anwalt weiß Jonathan, dass er nur durch eine Hochzeit oder ein Kind mit einer EU-Bürgerin das Aufenthaltsrecht bekommen kann. Bisher sind alle Versuche eine Ehe zu arrangieren gescheitert, jetzt ist er bereit, ein paar tausend Euro auszugeben – eine Zukunftsinvestition. Es gibt aber ein Problem: in Deutschland kann man ohne Aufenthaltsstatus nicht legal heiraten.

 

"I will reach my aim"

 

Aber natürlich gibt es auch hier eine Hintertür: in einigen EU-Ländern sind Eheschließungen ohne Meldebestätigung möglich. Darauf hat sich die Schattenwirtschaft natürlich schon längst eingestellt. Professionelle Netzwerke vermitteln europaweit Ehen. Jonathan ist aufgeregt. Schon bald will er in das Land fahren, in dem ihm seine mögliche Ehefrau in spe vorgestellt werden soll. Sorgen bereitet ihm aber der Grenzübertritt, denn für Illegale bzw. „Illegalisierte“ wie migrationspolitische Aktivist_innen sagen, gilt das Schengener Abkommen nicht.

Aber Jonathan ist optimistisch: „I will reach my aim“, und wechselt dabei ins Englische, wie er es oft tut, wenn er möchte, dass man ihn sicher versteht. In vielen Restaurantküchen deutscher Städte wird eben nur Englisch oder Französisch gesprochen. Und er fährt fort: „I know life better right now“ und bezieht sich dabei auf seinen früheren Aufenthalt in Deutschland, bei dem er sich, wie er jetzt findet, zu naiv verhalten hat. Durch allerlei Schmiergeldzahlungen an Botschaftspersonal bekam er auf haarsträubende Art und Weise ein spezielles Visum und wähnte sich schon am Ziel. Doch die Landung war hart. Geldverdienen in der fremden Stadt war schwer, er hatte anfangs nur wenige nützliche Kontakte und das Visum wurde entgegen seiner Hoffnung nicht verlängert. Um der Abschiebung zu entgehen, die ihm eine spätere legale Einreise erschweren würde, reiste er freiwillig nach Afrika aus. Obwohl er einen Teil seiner Ersparnisse aufgebraucht hatte, ließ er nicht den Kopf hängen und versuchte es nochmal. Dazu gab es schließlich auch keine Alternative, denn in der Heimat war nichts für ihn zu holen. Auch wollte er die in ihn gesetzten Erwartungen von Familie und Freunden auf keinen Fall enttäuschen.

Um einige Illusionen ärmer, aber dafür um Erfahrungen und, noch wichtiger, Kontakte reicher, setzte er alles auf eine Karte und gelangte erneut nach Deutschland. Aber davon will er mir später einmal erzählen. Mittlerweile ist er wieder zwei Jahre hier. Jonathan ist heute ein disziplinierter Networker und Kenner der Stadt, die inzwischen auch seine geworden ist. Als wir uns verabschieden, wiederholt er: „I will reach my aim“ – und jetzt glaube ich ihm das auch.

 
[1] Jonathan ist nicht sein echter Name
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