Der geteilte Marktplatz

Schwerpunkt: Märkte

Der geteilte Marktplatz

Die Kreuzberger Markthalle IX zwischen Kik und Bio-Chic
Von Hannes Obens / Fotos: Katharina Meinel / Audio-Beitrag: Jana Pareigis / Hannes Obens bedankt sich bei Felicitas Anheier für ihre Unterstützung

Wenn man Graham Waters folgt, dem Protagonisten in dem urbanen Episodenfilm L.A. Crash, kommt es zwischen den Einwohnern der kalifornischen Metropole zu keiner Begegnung oder Berührung: It's the sense of touch. In any real city, you walk, you know? You brush past people, people bump into you. In L.A., nobody touches you. We're always behind this metal and glass.[i] In Graham Waters‘ Los Angeles gibt es kein Miteinander –  jeder bleibt isoliert in seinem Fahrzeug. Diese Stadt ohne richtiges Zentrum hat keinen öffentlichen Ort, keinen ‚Marktplatz‘, der ihre nach Herkunft und Einkommen getrennte Bevölkerung zusammenbringt.

 

Für „bio“ allein bekommt man hier nur ein müdes Lächeln

 

Ein Ort der Begegnung und „Treffpunkt aller“ in Berlin-Kreuzberg möchte der Wochenmarkt sein, der seit Oktober 2011 freitags und samstags in der Markthalle IX stattfindet. Von Gedränge zu reden wäre übertrieben, aber es herrscht meist schon ein gewisse Betriebsamkeit. Der Umgang zwischen Käufern und Verkäufern ist persönlich; man ist freundlich zueinander. Die Bäuerin verkauft hier ihr naturbelassenes Gemüse frisch vom Feld, der Metzger bietet seine selbstzubereiteten Fleischspezialitäten vom „Original Brandenburger Sattelschwein“ an. Auf diesem Markt ist alles authentisch, so wird es zumindest dem Besucher geradezu mit dem Vorschlaghammer beigebracht: die Waren sind  „regional“, „handmade“, „biologisch-dynamisch“, von irgendwem kontrolliert und zertifiziert – für „bio“ allein bekommt man hier nur ein müdes Lächeln. Dieser etwas überspannte Regional- und Biokult schließt aber keineswegs eine gewisse Internationalität aus. Ganz im Gegenteil: die südeuropäischen Feinkoststände sorgen für ein fast mediterranes Flair und es duftet nach Toskana oder Provence. Angebot und Preisniveau lassen keinen Zweifel daran, dass die Marktbetreiber sich ‚Qualität statt Quantität‘ auf die Fahnen geschrieben haben. Dieses Mantra der bewusst lebenden modernen Mittelschicht treibt hier mitunter aber auch seltsame Blüten. So prangt über einem Marktstand ein „Manifest des Lukullisten“, in dem es heißt: „Ich vergesse nie: ungesäuerte Kastenbrote sind allenfalls eine Sättigungsbeilage“.

 

Die unsichtbare Grenze

 

Diese kulinarischen Höhenflüge stehen in einem bizarren Gegensatz zum Aldi, der sich ebenfalls in der Markthalle, gegenüber einer Kik-Filiale, befindet. Hier verfliegt der mediterrane Duft und es riecht wieder sehr nach Deutschland. Zwischen Aldi und Kik einerseits und dem Wochenmarkt andererseits scheint eine unsichtbare Grenze zu verlaufen. Die von den Marktbetreibern auf der Website gepriesene Vielfalt („Hier steht der türkische Metzger neben dem Brandenburger Biogärtner“) findet nicht statt. Es gibt zwar exquisite spanische, französische und italienische Delikatessen, günstige Angebote, arabische oder türkische Speisen sucht man aber vergebens. So sind Marktbesucher und Kik-Kunden feinsäuberlich getrennt, selten verirrt sich jemand auf die andere Seite. Jeder bleibt in seiner Welt. Die weiße Mittelschicht Kreuzbergs bleibt unter sich beim Plausch und Probekosten zwischen Quiche und Tapas. Pain au lait für 5,60 Euro pro Kilo, Caffé latte 3,40, 100 Gramm Emmentaler für über 3 Euro: Geld funktioniert hier als messerscharfe Grenze – weil immer nur gucken und nicht anfassen auch auf dem schönsten Markt keinen Spaß macht.

 

Keine Frage, die Markthalle IX war früher alles andere als ein Paradies. Eher ein ziemlich trister Ort mit deprimierenden Discountern, in dem sich Arme und Trinker in der Mitte der Halle um einen Kiosk zusammenfanden, der jetzt als Kaffeestand ausgewiesen ist. Aber für einkommensschwache, oft auch migrantische Anwohner ist sie bislang wichtiger Bestandteil der lokalen Infrastruktur. Zweifellos sind Aldi und Kik kein ästhetischer, aber leider unverzichtbarer Teil des Alltags von Millionen Menschen. Als 2009 bekannt wurde, dass die Stadt die Eisenbahnmarkthalle meistbietend an eine Investorengruppe verkaufen wollte, die den Bau weiterer Discounter plante, regte sich Widerstand in Teilen der Nachbarschaft. Die Initiative Lausitzer Platz mobilisierte Anwohner, Medien und Politik gegen die Verkaufspläne und unterstützte das Nutzungskonzept Markthalle IX einer Gruppe lokal verankerter junger Leute. Deren Plan wirkte demokratisch, sympathisch, ‚von unten‘: die Markthalle sollte ein kleinteilig genutzter Kiez-Treffpunkt werden. Schließlich gab die Stadt 2011 dem – niedrigeren – Gebot der Projektgruppe Markthalle IX den Zuschlag. Ein Sieg der Anwohner gegen die Kommerzinteressen der Stadt? In einem ersten Schritt wurde ein Wochenmarkt eingerichtet, den es irgendwann einmal täglich geben soll. Seither werden hier qualitativ hochwertige, insbesondere regionale Produkte statt „Discounter-Einheitsbrei“ angeboten – wer sollte was dagegen haben? Letztlich entwickelte sich der Wochenmarkt aber zur denkbar charmantesten Form des Rausschmisses weniger kaufkräftiger Leute.

 

„Vintage- und Slow-Food-Specials“

 

Die Halle ist heute zweifellos hübscher anzusehen als früher, die letzten störenden Kanten werden Schritt für Schritt abgeschliffen – Aldi und Kik sollen nach dem Willen der Betreiber bald genauso verschwinden wie wohl auch die letzten Dosenbiertrinker. Mit „Vintage- und Slow-Food-Specials“[ii] erreicht man kaum die umliegenden Sozialwohnungen und die traditionelle ‚Kreuzberger Mischung‘. Mittelschicht schlägt Unterschicht – das alte Lied. Die Markthalle IX ist sicher nur ein Mosaikstein einer von der Stadt geförderten ‚sanften‘ Aufwertung des Quartiers und der gesamten Innenstadt. In einer unternehmerischen Stadtentwicklungspolitik sind Märkte in erster Linie Orte mit Eventcharakter, die ein Viertel für bestimmte urbane Schichten lebenswert und bewohnbar machen und zugleich neue anlocken sollen. Während z.B. der Flowmarkt in Neukölln auf unruhige, kreative Szenejünger setzt, zielt die Markthalle auf eine gediegenere Käufergruppe, die auf der Suche nach dörflicher Überschaubarkeit, dem unverfälschten Leben – Authentizität – ist. Eine Ironie der Geschichte ist, dass Geringverdienende ausgerechnet von dem Ort verdrängt werden, der einst zur Sicherstellung der Grundversorgung der Ende des 19. Jahrhunderts rasant wachsenden Bevölkerung Berlins errichtet wurde. Die wilhelminische Hauptstadt ließ die Markthallen erbauen, um den Bedürfnissen der meist bettelarmen, in die Stadt strömenden Neu-Berliner gerecht zu werden und hygienische Mindeststandards durch die Verlegung des Verkaufs in Innenräume zu garantieren.

 

Heute, fast ein Jahr nach Einführung des neuen Nutzungskonzepts, kann man sagen: Ja, die Markthalle ist ein Treffpunkt geworden, auch freundlicher, persönlicher und schöner – aber für wen? Eine „Halle für alle“[iii], wie von den Betreibern behauptet, ist sie nicht. Hier bleiben Arm und Reich, Schick und Schäbig, bürgerliche Neu- und migrantische Alt-Kreuzberger_innen voneinander getrennt – und das auch ganz ohne Metall und Glas zwischen sich zu haben wie die Einwohner von Los Angeles. Auf dem Kreuzberger Markt kommt es zu keiner Begegnung der verschiedenen Lebenswelten dieses Stadtteils; dafür sorgt eine unsichtbare Grenze hinter Kik und Aldi.

 

Anmerkung: Dieser Artikel ist auch im "Neuen Deutschland" vom 29.07.13 in leicht modifizierter Form veröffentlicht worden: dasnd.de/828637

Ein weiterer Artikel zum Thema: http://www.99prozenturban.de/investorentraum-oder-anwohnertreffpunkt



[i] L.A. Crash (Original: Crash); Regie: Paul Haggis, USA 2004.

[ii] siehe Programm Markthalle 9 vom August/September 2012 http://www.markthalle9.de/veranstaltungskalender.html

Audio: 
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