Detailaufnahmen

Detailaufnahmen

Anna-Lena Wenzel
Beobachtungen

Die zwei Schwäne auf dem Landwehrkanal, die einen Tanz vollführen: immer abwechselnd legen sie ihre hochgereckten Köpfe an die Wange des anderen und so weiter.

An der Heinrich-Heine-Straße überquert am hellichten Morgen ein Mann in einem erotischen Einteiler die Straße, der nur das nötigste bedeckt. Ist das ein Sportler? Doch der Mann mit seinem schönen roten gestutzten Vollbart steigt in ein Taxi und fährt mit frisch gefülltem Geldbeutel zurück in den Kit-Kat-Club.

An der Haltestelle Eberswalder Straße höre ich eine Frau schreien oder besser kreischen. Das Geräusch durchfährt mich, weil es etwas Elementares hat, nach Angst klingt oder nach Abwehr. Als ich die Urheberin ausmache, ist es eine jüngere Frau mit blonden Haaren und schwarzer Leggings, die die Luft mit ihren Armen durchsticht von oben nach unten, schnell und außer sich, um sich dann von einem Moment auf den anderen, scheinbar zu beruhigen und die Treppen zur U-Bahn hochzusteigen.

Am Kotti eine Frau, die ganz allein einen Tanz aufführt. Wie auf einer Drum & Bass Party. Doch es sieht eher nach Totentanz aus, weil sie in ihrem Drogenrausch schon nicht mehr auf der Welt ist. Wie versunken bewegt sie sich, wie Irre. Am Ende kniet sie sich auf den Boden, um ihn zu küssen.

Morgens um halb elf, schlafen die Junkie-Veteranen in ihren Rollstühlen, mit nur noch einem Bein, ihren Rausch der Entrechteten aus. Stehen am Kottbusser Tor wie abgestellt und nicht abgeholt irgendwo auf dem Gleis herum.

Wie sich der Kiez verändert: Die Kiezkneipe ist von einer dieser indischen Touri-Restaurantketten übernommen worden; aus dem billigsten Getränkemarkt wird ein Avantgarde-Liquid-Concept Store, während nebenan die Videothek durch ein edel Bio-Lammfell-Kinderkleidungladen ersetzt wurde. Die Haushaltsauflösungsläden werden zu Vintage-Stores und die verrauchten Männercafés zu veganen Bagelläden. 

Auf der Baustelle des Humboldt Forums rumst es plötzlich mitten in der Nacht. Der Seilzug am riesigen Kran bewegt sich, aber ich sehe niemanden und oben im Kran ist auch kein Licht. Was geht hier vor? Langsam bewegt sich der Seilzug nach oben, hebt einen Container an und trägt ihn durch die Luft.
Eine Ecke weiter liegt ein Mann auf einer Bank und raucht eine Zigarre mit Vanilleduft. Ich überlege den Mann darauf hinzuweisen, dass es arschkalt ist und er erfrieren wird, wenn er hier einschläft und lasse es dann doch bleiben.
In der Ritterstraße stehen an auf der Straße plötzlich viele junge Frauen mit ihren Handys in der Hand, ich brauche einen Moment, bis ich verstehe, dass sie nach einem Taxi Ausschau halten und wahrscheinlich gerade aus dem Club kommen.

Wie schön: auf meinem Balkon nascht eine Blaumeise in einer akrobatischen Verrenkung die Kerne aus der Sonnenblume.

Der Baum vor meinem Fenster plötzlich gestutzt. Einfach abgesägt. Das muss doch weh tun, denke ich.

Die Platanen häuten sich,
zart sehen sie die Stämme aus, die zum Vorschein kommen.
Die Rinde bricht beim Überfahren entzwei.

Das mochte ich: mit Maxi durch die Gegend laufen und die Welt aus Kinderaugen wahrnehmen: die Oberflächenbeschaffenheit des Bodens genau anzuschauen und zu fühlen; die aus der Fuge herauswachsende Pflanze ganz neugierig anzufassen und zu bestaunen.

Auf dem Friedhof liegt ein Mann mit dem Rücken auf dem Boden und strampelt wie ein Käfer hilflos mit ihnen in der Luft. Er bittet um Hilfe, doch als wir den Notruf anrufen wollen, insistiert er und bittet uns, ihn erst zum Grab seiner Frau und dann zum Auto zu bringen, dabei ist er außerstande auch nur zwei Meter zu gehen.

Die alte Dame mit dem schönen Blumenstrauß in der Hand und den bunten Socken, die rüstig aussieht und freundlich, bleibt nachdem sie in den Bus eingestiegen ist, einfach stehen und reagiert auch nicht auf Nachfragen. Gedankenverloren wühlte sie in ihrer Tasche. War ich erst ganz angetan von ihr und fragte mich für wen wohl die Blumengeste sei, kippt dieses Gefühl innerhalb von kürzester Zeit und diese alte Dame kommt mir verwirrt, klapprig und hilfsbedürftig vor.

Zweimal nacheinander sehe ich zwei ältere Damen ineinander gehakt auf dem Gehweg. Ein Liebespaar oder eine Phalanx gegen die Unwägbarkeiten des Großstadtlebens?

Ein alte gebückte Frau: ihr Rücken eine Kurve, ihr Blick konzentriert auf den Boden gerichtet. So klein war die Frau geworden, dass ihre Hand nach oben zum Stockknauf greifen musste. Die hat bestimmt geschuftet im Akkord und hatte kein Yoga als Ausgleich und kein Pilates zum Bauchmuskelaufbau.
Fr, 04/17/2020 - 13:57
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Die Fotos und der Text stammen au

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