Festplatz ohne Kirmes

Festplatz ohne Kirmes

Wie die Pandemie den Blick auf öffentliche "Schandflecken" verändert
Boris Sieverts
Was mir zu öffentlichem Raum in Corona-Zeiten einfällt? Vielleicht, dass öffentlicher Raum endlich auch leer sein darf, ohne dass er als untergenutzt, verschenktes Potential oder gleich als Schandfleck und Baulandreserve betrachtet wird. Diese funktionale Bemessung des öffentlichen Werts von Orten anhand ihrer Nutzungsintensität war ja immer schon auf dem anderen —dem ästhetischen —Auge blind. Nun, wo auch die repräsentativen Plätze unserer Städte nicht nur leer sein dürfen, sondern sogar sollen, kann man sie endlich gleichstellen mit den anderen öffentlichen Orten, die schon immer leer und trotzdem oder gerade deshalb schön und wichtig waren: Die brachliegen- den Industrieareale, die leeren Baumarktparkplätze am Wochenende, die obersten Parkdecks der Parkhäuser, die Orte under the bridge, der einsame Weg zwischen Grabeland und Bahndamm, die schon seit langem verfüllte Deponie, das Lärmschutzwäldchen, der Festplatz für die Kirmes außerhalb der Kirmes-Zeit. Was diese Orte auszeichnet, ist ihre Anmutung zum Beispiel der Weite, der Unheimlichkeit, des Übergangs, der Erinnerung an exotische Vergnügen, des Echos einer größeren Landschaft. Eine in meinen Augen gute Stadt braucht solche Orte zur Kompensation: Eine Teilnahme an Öffentlichkeit ist ohne die Möglichkeit, aus ihr herauszutreten, auf Dauer nicht möglich. Die städtischen „Freiräume ohne Öffentlichkeit” sind vielfach die einzige Möglichkeit zu einem solchen Heraustreten jenseits des Rückzugs in die eigenen vier Wände. Sie sind somit Regenerationsräume für eine erschöpfte Öffentlichkeit und übernehmen im Gegensatz zu den institutionalisierten urbanen Räumen alle Funktionen von Gegenwelten. Diese reichen vom Ort der ästhetischen Erfahrung des Anderen, der die Sinne wach und den Geist beweglich hält, bis zur Aufnahme von Tätigkeiten und Lebensformen, für die im institutionalisierten öffentlichen Raum kein Platz ist. Mein Post-Corona-Traum sähe demnach so aus: Jetzt, wo die repräsentativen öffentlichen Räume genauso elegisch und auf ihre räumliche Anmutung zurückgeworfen sind wie die alten „Schandflecken“, lernen wir vielleicht, beide auf einer Ebene zu betrachten. Wenn dann irgendwann das öffentliche Leben in die einen Räume zurückkehrt, während die anderen so leer bleiben, wie sie immer waren, stellen wir fest, dass beide in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen.

Dieser Text erschien erstmals im Magazin #4 Shift der Urbane Künste Ruhr unter der Überschrift "Stimmen aus dem Off" 2020.
Kurzbeiträge

Einwürfe

50% Urban Anna-Lena Wenzel berichtet von einer einwöchigen Sommerschule zum Thema Transformation in Motion.
Zwischen Laternen und Flaggen Ein Essayfragment von Marco Oliveri über das fragile Konstrukt Nachbarschaft
Tischlein Deck Dich Das Buch flavours & friends von TDD enthält Rezepte, ist die Dokumentation einer sozialen Raumpraxis und hält die Veränderungen Berlins fest.

Fundsachen

Gefährten* Eine Serie von Stoffbeuteln, hergestellt aus Stoffen aus der VEB Schirmfabrik Karl-Marx-Stadt, fotografiert von Lysann Nemeth.
Malheur Couleur Die Farbe Weiß weckt zuallererst Assozia
Sechser Inflationär verbreitet: gepinselte Sechsen auf temporärem Stadtmobiliar. 

Straßenszenen

Berliner Trümmerberge Eine Recherche zu den Berliner Trümmerbergen von Karoline Böttcher mit einem Text von Luise Meier. 
Kabinett Gallery Die Kabinett Gallery nutzt ausgediente Kaugummiautomaten als Ausstellungsflächen im öffentlichen Raum
Zu Gast im 24. Stock Algisa Peschel, Stadtplanerin und eine der Erstbewohnerinnen des DDR-Wohnkomplexes in der Berliner Leipziger Straße lädt zu sich nach Hause ein.

So klingt

die Platte Zwei Songtexte von WK13 und Joe Rilla bringen die Ost-Plattenbauten zum Klingen
der Görlitzer Park K.I.Z. rappt über den Görlitzer Park.
Pedestrian Masala Field-Recordings von Andi Otto aus Bangalore, Südindien.

So lebt

Sorge „Sorge“: meine Platte, meine Heimat,
(e) es sich in der Schule der Arbeit Ute Richter deckt mit ihrer künstlerischen Forschung ein vergesenes Kapitel der emanzipatorischen Erwachsenenbildung in Leipzig auf.
man nicht mehr im Prenzlauer Berg Das war einmal: der Prenzlauer Berg im Jahr 1991, erinnert von Jo Preußler