Zwischen Laternen und Flaggen

Zwischen Laternen und Flaggen

Text und Foto: Marco Oliveri
Mein Nachbar tritt aus der Haustür mit schnellen, entschlossenen Schritten. Zwei kleine Papierstücke gleiten aus seiner Hand und trudeln zu Boden, fast unbemerkt. Dann hebt er den rechten Arm und berührt mit einer fließenden, fast beiläufigen Bewegung die Straßenlaterne. Nicht suchend, nicht zögernd, sondern gezielt, als wüsste er genau, wohin. In der nächsten Sekunde klebt der Aufkleber: Schwarz, weiß, rot. Von oben nach unten. Keine Zahl, kein Wappen, kein Wort. Und doch ist der Aufkleber eine Aussage.

Ich frage mich: Was macht diese Beobachtung mit mir, die nicht in das Bild meines Nachbarn passt?

Denn das Bild ist freundlich. Mein Nachbar ist freundlich. Er grüßt, er fragt, er hört zu. Man trifft sich auf der Straße, vor dem Haus, zwischen Fahrrädern und Mülltonnen. Ein paar Worte über das Wetter, übers Grillen, über das Leben in der Straße. Drüben, im selben Mehrfamilienhaus, lebt eine junge Mutter mit ihrer Tochter. Ich schätze, das Mädchen besucht die vierte Klasse genau wie meine Nichte, die auf der gleichen Straßenseite wohnt wie wir, direkt gegenüber. Die beiden Mädchen könnten miteinander spielen. Gleicher Schulweg, gleiches Alter, dieselbe Straße. Aber da ist nichts. Kein gemeinsames Spiel, keine Verbindung, kein Wort. Sie leben nebeneinander her, getrennt durch etwas, das man nicht sieht, aber spürt. Verschiedene Lebenswelten, obwohl der Asphalt unter ihren Füßen derselbe ist. Die Mutter ist freundlich, zugewandt. Ihr Zuhause ist offen, häufig kommen Menschen aus der Drogenszene vorbei. Sie sind vom Leben gezeichnet. Und auch sie gehören dazu. Solange man sich respektiert, solange niemand zu Schaden kommt, scheint hier jede Person willkommen zu sein. Im gleichen Haus wohnt ein Pärchen, von dem wir nichts wissen und das wir doch irgendwie kennen. Vermutlich aus Syrien. Wir kennen ihr Licht – grell, kalt, flackernd, wie ein klinischer Scheinwerfer, der unser Esszimmer trifft, Nacht für Nacht. Wir kennen ihren Rhythmus – wann sie schlafen, wann sie aufstehen. Dass sie unermüdlich lernen, sich abwechseln am Schreibtisch. Vielleicht ein junger Arzt. Vielleicht eine Ingenieurin. Sie sind zurückhaltend, fast lautlos. Es gibt kein Grüßen und auch kein Winken. Nur ein stiller Austausch von Blicken. Von Fenster zu Fenster. Jeder in seiner Wohnung, jeder in seiner kleinen Festung.

Ganz unten wohnt ein junges Paar mit einem Baby in einer möblierten Wohnung auf Zeit. Wahrscheinlich nur eine Zwischenstation, ein Übergang, ein erster Anker auf dem Weg irgendwohin. Wir grüßen uns gelegentlich, meist wenn das Baby zuerst winkt. Ich respektiere das, dränge mich nicht auf. Man spürt, wie vorsichtig die Balance hier ist zwischen Kontakt und Rückzug, zwischen Duldung und Neugier.

Neben meinem Haus, über einem Restaurant, lebt eine WG. Die Bewohner*innen kommen vielleicht aus Südamerika oder Afrika. Ich weiß es nicht. Ich hab sie nie gefragt. Ich weiß nur: Sie können singen in vielen Sprachen. Alle! Es schallt engelsgleich zu uns herüber, manchmal überraschend, manchmal wie eine Antwort auf eine Frage, die niemand gestellt hat. Ich sehe sie gelegentlich in Hotelkleidung, hetzend zur Bushaltestelle. Oder top gestylt, samstagabends, flanierend Richtung Innenstadt. Ich weiß nie, wie viele es sind. Aber sie sind da. Und ihre Stimmen auch.

Mein Aufkleber-Nachbar wirkt nicht wie jemand, der das alles nicht will. Nicht wie jemand, dem das zu viel ist, zu fremd, zu nah. Er grüßt jeden, wenn er ihn sieht. Er hilft beim Tragen, hält Türen auf, nickt freundlich, bleibt stehen, wenn man ihn anspricht. Und doch klebt er diesen Aufkleber. Schwarz, weiß, rot. Einfach so, mitten am Tag, mit bestimmter Geste. Als wäre das keine Aussage, sondern nur ein Bild. Als gäbe es darin nichts zu erkennen. Vielleicht hat es für ihn nichts zu bedeuten oder etwas ganz anderes. Vielleicht ist es Wut, die sich einen Kanal sucht. Oder ein Missverständnis, das nie erklärt wird. Vielleicht ist es aber auch genau das, was es ist. Seit ich ihn bei seiner Aktion beobachtet habe, schaue ich anders. Nicht nur auf ihn, sondern auf die Straße. Auf das, was klebt. Auf das, was stehen bleibt, wenn alle gegangen sind. „Deutschland den Deutschen“, „Rape refugees are not welcome.“ Worte, die schreien ohne Stimme. Gedanken, die etwas behaupten, von denen ich dachte, sie existierten in dieser Straße nicht. Nicht in der Nachbarin mit Kind. Nicht im Baby, das zuerst winkt. Nicht im Gesang aus dem Dachgeschoss. Und auch nicht in dem jungen Mann, der so freundlich ist, dass man ihm gar nicht zutraut, sich für solche Worte zu entscheiden.

Ich sehe die Aufkleber. Und ich sehe ihn. Und ich frage mich, wie das zusammengeht. Ob es zusammengeht. Ob Menschen widersprüchlich sein dürfen, ohne falsch zu sein. Ob man jemanden mögen kann, der Dinge tut, die man nicht verstehen will. Ich halte die Augen offen, aber mein Herz nicht geschlossen. Noch nicht.
 
Mo, 09/22/2025 - 10:47
Kurzbeiträge

Einwürfe

50% Urban Anna-Lena Wenzel berichtet von einer einwöchigen Sommerschule zum Thema Transformation in Motion.
Zwischen Laternen und Flaggen Ein Essayfragment von Marco Oliveri über das fragile Konstrukt Nachbarschaft
Tischlein Deck Dich Das Buch flavours & friends von TDD enthält Rezepte, ist die Dokumentation einer sozialen Raumpraxis und hält die Veränderungen Berlins fest.

Fundsachen

Gefährten* Eine Serie von Stoffbeuteln, hergestellt aus Stoffen aus der VEB Schirmfabrik Karl-Marx-Stadt, fotografiert von Lysann Nemeth.
Malheur Couleur Die Farbe Weiß weckt zuallererst Assozia
Sechser Inflationär verbreitet: gepinselte Sechsen auf temporärem Stadtmobiliar. 

Straßenszenen

Berliner Trümmerberge Eine Recherche zu den Berliner Trümmerbergen von Karoline Böttcher mit einem Text von Luise Meier. 
Kabinett Gallery Die Kabinett Gallery nutzt ausgediente Kaugummiautomaten als Ausstellungsflächen im öffentlichen Raum
Zu Gast im 24. Stock Algisa Peschel, Stadtplanerin und eine der Erstbewohnerinnen des DDR-Wohnkomplexes in der Berliner Leipziger Straße lädt zu sich nach Hause ein.

So klingt

die Platte Zwei Songtexte von WK13 und Joe Rilla bringen die Ost-Plattenbauten zum Klingen
der Görlitzer Park K.I.Z. rappt über den Görlitzer Park.
Pedestrian Masala Field-Recordings von Andi Otto aus Bangalore, Südindien.

So lebt

man nicht mehr im Prenzlberg Das war einmal: der Prenzlauer Berg im Jahr 1991, erinnert von Jo Preußler
(e) es sich im Vertragsarbeiterheim in der Gehrenseestraße Im Februar 2023 lud ein Kollektiv[1] ein
man an der spanischen Touristikküste Architektur- und Reiseeindrücke von 2023/24 von Benjamin Renter, der an der spanischen Mittelmeerküste den Einfall der Investitionsarchitektur festgehalten hat.