Was die Corona-Pandemie verändert

Was die Corona-Pandemie verändert

Anna-Lena Wenzel
Bei der Lektüre des "Journals" von Carolin Emcke, ihrem während der Pandemie geführten Tagebuchs, will ich gar nicht, dass es aufhört, weil es so erfrischend und wohltuend ist, von jemand anderem die Corona bedingten Veränderungen zusammengefasst zu bekommen, doch Emckes Einträge enden im Mai 2020. Das Bedürfnis darüber zu sprechen und zu reflektieren, was sich täglich verändert und wie der Umgang mit den neuen Entwicklungen und Verordnungen ist, ist jedoch ungebrochen. Hier veröffentliche ich eine Auswahl meiner Notizen mit meinen Beobachtungen.

22.5.2021
It is crazy: die Läden und Restaurants öffnen wieder, draußen ist halligalli. Man ist es nicht mehr gewöhnt: so viele Menschen draußen, die an Tischen sitzen, mit dem Fahrrad fahren, Trauben bilden.
Das erste Mal seit langem bei einer Kunstveranstaltung ohne Anmeldung und Test. Herumstehen, trinken, unverabredet Leute treffen, Small-Talk halten und von Gespräch zu Gespräch wandern, bis der Rücken weh tut, das Bier zu kalt ist in den Händen. Es ist ein euphorisierendes Gefühl wieder zusammen zu sein, und alle sind überrascht wie schnell die Zeit vergangen ist, als wir um elf auf die Uhr schauen – zu dieser Zeit liegen wir sonst doch schon im Bett!

Ich frage mich, wie lange diese Bewegungsfreiheit wohl anhalten wird, schließlich folgte bisher auf jedes Tal die nächste Welle und wenn man etwas gelernt hat, dann dass man nicht zu optimistisch sein sollte.  
Der nächste Gedanke ging in die andere Richtung: wenn jetzt wieder alles losgeht, was wird dann bleiben von der Corona-Zwangspause? Es hatte ja nicht nur Nachteile so auf sich zurückgeworfen zu sein, obwohl klar der Input fehlte – in Form von Ausstellungen und Begegnungsräumen oder den mitunter stundenlangen Fahrten durch die Stadt. Was ich der Zeit nachträglich abgewinnen kann, ist, dass es alle gezwungen hat, aus der Maschinerie herauszutreten und mit etwas Distanz auf das Leben und den eigenen Entwurf zu blicken. Was will ich wieder aufnehmen und was nicht?, wird als Frage bleiben.

3.4.2021
Es ist Frühling, die Sonne scheint und es bewegt sich was – in der Natur, aber auch in den Köpfen, weil nach sinkenden Zahlen erste Öffnungen beschlossen wurden, Kinder wieder in Kitas und Schulen gehen, Museen und Geschäfte wieder geöffnet haben. Beim abendlichen Gang werden die Wege und Brücken am Kanal von Menschen bevölkert, es herrscht eine ausgelassene Stimmung. Ich werde zum ersten Mal seit langer Zeit wieder angeschaut – es ist ein ungewohntes Gefühl!
Für einen kurzen Moment macht sich eine Atmosphäre von Sorglosigkeit breit, und ich muss mir kurz vergegenwärtigen, dass vieles immer noch nicht wieder so ist wie vorher: Orte der Geselligkeit und der Ausgelassenheit fehlen weiterhin, die Reisefreiheit ist weiter stark reglementiert, Projekte und Ausstellungen sind nach wie vor in der Schwebe. Hinzu kommt die Unsicherheit, wie es weitergehen wird in Anbetracht der Mahnungen der Virolog*innen und Naturwissenschaftler*innen vor der nächsten Welle und den sich ausbreitenden Mutationen.

Die Politik reagiert langsam und kleinteilig. Die Folge ist, dass niemand mehr einen Überblick über die aktuellen Verordnungen zu haben scheint, weiß, was erlaubt ist und was nicht. Dazu gesellt sich das Abwägen zwischen dem Erfahrungswissen des letzten Jahres und den Verordnungen. Welche werden kontrolliert? Welche erscheinen sinnvoll? Welche scheitern an überforderten Behörden, unorganisierten Testkonzepten oder undurchsichtigen Strategien der Impfstoffhersteller. Es herrscht eine nervöse Stimmung. Gerade ist erst wieder alles hochgefahren, nun muss wieder umdisponiert, sich erneut umgestellt werden. Dieser Reibungsenergieverlust schlaucht, genauso wie die Unsicherheit.
Die Kultur steht mitten drin: sie pocht auf ihre Relevanz und möchte zugleich verantwortlich handeln. Das heißt sie plädiert einerseits für Öffnungen und geht andererseits mit gutem Beispiel voran, in dem sie von alleine wieder schließt. Es ist verzwickt.

Alle sind am Schimpfen, aber alle über etwas anderes: darüber, dass die Kitas wieder schließen, dass in anderen Ländern schneller geimpft wird, dass die Alten zurückgestellt werden, dass man nach Mallorca, aber nicht an die Ostsee fahren darf. Das Vertrauen scheint futsch, genauso wie der Zusammenhalt.

Mentales Grundrauschen sagt Hilu über die Situation und Maike schreibt aus Paris, die ganze Situation hätte sie paralysiert, sie hätte nicht reisen mögen und auch ihr Kopf sei wie leer. 

24.3.2021
Heute wieder Regen. Ich mag nicht mehr draußen in der Kälte herum stehen, mag nicht mehr frieren.

23.3.2021
Beim Nachbarschaftskünstler*innenaustauschzoom kommt der ganze Frust auf den Tisch: Marte ist total genervt davon, dass bei ihr alle Projekte und Ausstellungen verzögert oder abgesagt sind. Aus Frust, sagt sie, habe sie deshalb angefangen, unabhängig von allen Deadlines und Aufträgen, Bücher zu binden, mit Drucken zu füllen und zu gestalten, um aus dem Gefühl des Abhängigseins herauszukommen. Um sie uns zu zeigen, hat sie zwei Kameras aufgebaut. Sie sind schön.
Wir sprechen darüber, wie sich unser Alltag verändert und sich veranstrengt hat, denn für einige von uns ist es sogar Stress, draußen rum zu laufen, weil man immer auf der Hut vor zu viel Nähe sein muss.
Wir kommen auf die Paradoxien der Situation zu sprechen, die sich darin zeigen, dass die Wirtschaft weitermachen darf, während die Kultur ausgeknockt ist, dass einige bei ihren Aufbaujobs jeden Tag Tests gemacht haben, während die Handwerker und das Sicherheitspersonal nicht getestet wurde.
Ich erzähle, dass ich gerade von der Frauenärztin komme, die meinte, sie hätte seit der Corona-Pandemie sehr viele Frauen mit Zyklusunregelmäßigkeiten, die Anspannung würde sich auch auf diese Weise zeigen.

Die Gruppe ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Situation Gruppenprozesse und -kommunikation erschwert. Die digitalen Alternativen funktionieren zwar ortsungebunden und vermögen so Menschen zu involvieren, die ihr Zuhause „woanders“ haben oder dieses nicht so einfach verlassen können, aber das funktioniert nur, solange man mit der „Umgebung“ bereits vertraut ist, wenn nicht, werden sie schnell zu neuen Zugangsschwellen.

9.3.2021
Zum wiederholten Male höre ich draußen jemanden an der Parkecke stehen und zu einer nicht vorhandenen Bühne laut sprechen. Das Publikum ist ihm abhandengekommen, denke ich. Wie verzweifelt muss jemand sein, sich an die Ecke zu stellen und ins Leere zu rufen in der Hoffnung auf Resonanz?

Was ich seit der Pandemie auch oft beobachte: wie sich Männer und Frauen an die Bäume stellen oder zwischen die Autos und pinkeln, direkt unter meinem Balkon!

Das hat Jens schön gesagt: dass man zwar weniger Leute sieht, aber dass sich dafür der Kontakt mit denen, mit denen man im Austausch ist, intensiviert hat.

24.2.2021
Lektürekreis mit Karen. Sie hat zwei Texte der Künstler*in und Musiker*in Johanna Hedva vorgeschlagen, in denen sie* aus radikal subjektiver Perspektive über ihre eigenen chronischen Krankheiten schreibt, wobei es sowohl um die Einschränkungen geht, die damit verbunden sind, als auch darum, welch revolutionäres Potential im Kranksein liegt. Sick Woman Theory endet mit der Vision, dass durch eine Solidarisierung der Menschen, die an Krankheiten leiden, der Kapitalismus lahm gelegt werden könnte: „Aufeinander und auf sich selbst achtzugeben, ist der antikapitalistischste Protest, den es gibt. Die Verletzlichkeit und Fragilität und Prekarität von einander ernst zu nehmen und anzuerkennen, uns zu unterstützen, anzuerkennen und zu stärken. Einander zu beschützen, Gemeinschaft zu kreieren und zu praktizieren. Eine radikale Verwandtschaft, eine Gemeinschaft wechselseitiger Abhängigkeit, eine Politik der Care.“[1] Bis dahin ist es noch ein weiter Weg, doch schon die Sichtbarmachung der Perspektive von kranken Menschen und die Sensibilisierung für ihre Diskriminierungserfahrungen sind wichtig – und brandaktuell! Kranksein wird bei ihr zu einem Politikum, was zur aktuellen Situation der Corona-Pandemie passt.
Denn plötzlich haben wir alle verwundbare Körper und fühlen uns von einer Krankheit bedroht – einer Krankheit, die tödlich enden kann, die weltweit das öffentliche Leben lahm gelegt hat und deren Folgen für die Wirtschaft und das soziale Miteinander erheblich, wenn auch noch nicht in Gänze absehbar sind. Doch schon jetzt ist klar: Die bedrohliche Gefahr des Erkrankens verrückt das Selbstverständnis derjenigen, die nicht durch ihre chronischen Erkrankungen wissen, was es bedeutet, dauerhaft beeinträchtig zu sein und deswegen diskriminiert zu werden. Und sie hat gezeigt, dass auch Politiker wie Donald Trump, Boris Johnson oder Jens Spahn krank werden können, dass sie nicht unantastbar, sondern fragil und auf Care-Arbeit angewiesen sind. Als diese Beobachtung zu einem Gedanken reift, wird mir plötzlich klar, dass Politiker*innen wie Wolfgang Schäuble, Malu Dreyer oder Manuela Schwesig schon lange Zeugnis davon ablegen, dass man, obwohl man an einer Krankheit oder einer körperlichen Beeinträchtigung leidet, eine öffentliche Person sein kann. Sie sind der Beweis dafür, dass sich Kranksein, Berufstätigsein und Führungsqualitäten nicht ausschließen und das es Zeit wäre, Gesund-Sein als Standard, als Status Quo zu hinterfragen. Von hier ist es nur ein kleiner Schritt, um die Erfahrung des Krankseins, des Heraustretens aus den üblichen Geschwindigkeiten, Wegen, Erwartungen nicht als Defizit, sondern als Kompetenz zu betrachten. Und um offener über Ableismus, also der Benachteiligung aufgrund körperlicher oder mentaler Benachteiligungen Fähigkeiten, zu sprechen, dem sich die Protagonisten ausgesetzt sehen.
Ganz grundsätzlich zwingt die Corona-Pandemie zur Auseinandersetzung mit der eigenen körperlichen und seelischen Verwundbarkeit (wozu auch gehört, dass Politiker*innen eingestehen mussten, nicht zu wissen was in Anbetracht des dynamischen Geschehen und der historisch einmaligen Situation zu tun ist und Fehler gemacht zu haben). Sie ist zudem eine Übung in solidarischem, umsichtigem Miteinander. Denn es gilt die Schwächsten zu schützen, auch wenn den Menschen nicht immer auf der Stirn geschrieben steht, ob sie zu einer Risikogruppe gehören oder nicht. Dass Menschen rücksichtsvoll miteinander umgehen, dass zunächst Bedürfnisse geklärt werden, bevor man zusammenkommt, ist in feministischen und aktivistischen Kontexten schon lange Usus – und wurde nun zu einem gesellschaftlichen Standard, jedenfalls in der Theorie. Mir hat die Beobachtung, dass sich Dinge in diese Richtungen (des Verwundbarseindürfens und des Rücksichtnehmens) hin verschieben, optimistisch gestimmt in Bezug auf die Frage, was von der Corona-Pandemie bleiben wird. Sie rückt die Frage, wie sich Care stärker als gesellschaftliches Organisationskonzept und Arbeitsverständnis durchsetzen kann, noch deutlicher in den Fokus, in dem sie durch die Debatten um Gleichberechtigung eh schon ist.[2]

11.2.2021
Was für komische Dinge diese Pandemie mit uns macht: Da stehen Wilma und ich auf der Straße und machen eine Von-Hinten-Umarmung – es muss so aussehen als wenn sich zwei dick gepolsterte Bären unbeholfen betasten.

Wo die Kontaktbeschränkungen einerseits zu Distanz führen, stellen sie andererseits neue Allianzen her. Mein Neffe zum Beispiel geht zum Kinderhüten zu den Nachbarn, zwei Bekannte ohne eigene Familie fahren zu ihren Geschwistern um bei der Kinderbetreuung zu helfen.

Herausfordernd ist das Kennenlernen: Weil man sich nur zum Spazieren trifft, ist es schwerer, sich ins Gesicht zu schauen, sich ansichtig zu werden, weil man beim Spazierengehen immer nebeneinander geht und meist eine Maske trägt.

5.2.2021
Weil die Pandemie nun schon bald ein Jahr in der Welt ist, verliert sie ihren vorläufigen Charakter. Sie gehört zum Alltag, man hat Routinen um sie herum entwickelt. Sie ist nichts, was bald vorbei sein wird, sie wird bleiben und auf unterschiedliche Art und Weise unser Leben mitbestimmen. Sätze, wie: „Ich freu mich schon, wenn wir uns wieder live sehen können“, laufen ins Leere, einfach, weil es noch Monate dauern wird, bis es wieder so weit ist. Das Augen-zu-und-durch funktioniert nicht. Man muss sich umstellen, nach Alternativen suchen. Sich damit abfinden, dass es anders weitergehen wird. Nicht unbedingt schlechter, aber anders, auf nicht-vertrauten Bahnen.

„Aber jeden Tag an sich zu erleben, was geschieht, wenn etwas Ritualisiertes auf einmal nicht mehr gedankenverloren ablaufen kann, wenn wir andere Lebensformen, andere Techniken uns aneignen müssen, das löst Verunsicherung aus, aber eröffnet auch Räume.“ (Carolin Emcke: Journal, Fischer, München, 2021)

In diesem Sinne ist es faszinierend, wie sehr man sich an den Ausnahmezustand gewöhnt. Nicht anders kann ich mir erklären, wie Menschen Kriege erdulden und vor Ort ausharren – in Syrien oder damals in Berlin während des Krieges. Das geht doch nur, weil sich auch so etwas wie ein Alltag herstellt, sich Routinen bilden, die helfen, die Panik zu bewältigen und in den Hintergrund treten zu lassen. Man gewöhnt sich an vieles, merke ich in dieser Corona-Krise, und bin angetan davon, wie findig die Menschen darin sind, sich anzupassen und neue Wege des Beisammenseins und der Betätigung zu finden. Wie ausgelastet die Tischtennisplatten hier im Kiez sind, und wie viele Leute spazieren gehen, trotz Winter! 




[1] Johanna Hedva: Sick Woman Theory (2020), https://www.kunstverein-hildesheim.de/caring-structures-ausstellung-digi...

[2] Vgl. dazu das Gespräch zwischen der Kuratorin des M1 Sascia Bailer und der Künstlerin Laura Mahlke im Rahmen von See U th3re im Kunstverein Harburger Bahnhof, https://kvhbf.de/de/program/=material/322-podcast-5-care-br-sascia-baile...

Foto: Corona-Teststation in der Prinzessinnenstraße
So, 04/11/2021 - 13:57
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