Nolli lesen
Nolli lesen
ANLEITUNG ZUM KARTENLESEN
Kathrin Wildner im Gespräch mit Dagmar Pelger
Auf einer Zugfahrt von Berlin über Prag nach Wien zum Urbanize Festival im Herbst 2023 sprach ich mit Dagmar Pelger über Kartierungen und das Lesen von Karten. In ihrer Arbeits- und Forschungspraxis kartiert Dagmar in unterschiedlichen interdisziplinären und partizipativen Arbeitszusammenhängen urbane Räume des Gemeinschaffens. Mich interessierte in dem Gespräch vor allem, welche Bedeutung für sie das Lesen von Karten im Unterschied zum Machen der Karte hat.
KW: Wenn du Mapping hörst, was fällt dir ein? Woran denkst du?
DP: Ich denke an die Arbeit mit Studierenden. Die besten Seminare habe ich mit Anna Heilgemeir zusammen gemacht. Da trafen zwei gute Techniken aufeinander. Ich habe ein großes Interesse an der genauen Zeichenarbeit, an dem Handwerklichen in der Karte, an der Einbettung in bestehende Referenzsysteme, die sich dann aber doch in der Zeichnung zu verlieren, die schiere Menge an Informationen, die man in einer Gruppe aufs Papier bringen kann. Und Anna bringt einen Action Part rein. Anna stellt kritische Fragen, wirft Themen in die Runde. Sie ist diskursiv während des Prozesses sehr stark, sie reflektiert den Akt des Zeichnens und den öffentlichen Raum, den man da gezeichnet hat. Sie stellt kritische Fragen zu der Verschachtelung zwischen dem erlebten und dem beobachteten Raum und dem abgebildeten Raum, also der Zeichnung, mit der wir dann ja wieder in den Raum gehen.
KW: Du beschäftigst dich ja vor allem mit dem Machen der Karte. Was passiert, wenn die Karte fertig ist bzw. wie liest du Karten?
DP: Das sind zwei ganz verschiedene Tätigkeiten. Im Prozess des Karten Machens mit den Studierenden ist es sehr wichtig, immer wieder die Karte auszubreiten, sie gemeinsam zu lesen, denn man sieht mehr als das, was man glaubte aufzuzeichnen, definitiv.
KW: Was passiert da?
DP: Es entstehen neue Bilder. Es gibt ja den Referenzrahmen, in dem man arbeitet: ein flaches Blatt Papier, das Sortiment an Zeichenwerkzeugen, damit auch eine Eingeschränktheit der Codes und Zeichensysteme wie Strichdicke oder Symbole, auch die Limitiertheit der Maßstäblichkeit. Wenn diese Elemente der Karte dann nebeneinander und auch übereinander auf dem Papier zu liegen kommen, tun sich neue Zusammenhänge auf. Oder es ist vielmehr eine Verdichtung, ein bestimmter Fokus, dessen man sich so vorher unter Umständen gar nicht bewusst war. Dieser Fokus wird durch das Mapping erarbeitet und kommt im Lesen der Karte zum Vorschein. Das hat etwas mit den Referenzsystemen aber auch mit dem Kontext und dem Zeitpunkt des Kartierens zu tun, in einer anderen Stimmung oder mit anderen drei Zeitungsartikeln als Informationen könnte die Karte auch anders aussehen.
KW: Also es gibt die verschiedenen Ebenen: das Sammeln, Übertragen der Daten, das Zeichnen, das entspricht dem Karten-Machen. Lesen sagst du, hat etwas mit der Auswertung der Karte zu tun, beides findet in einem bestimmten Rahmen statt, muss kontextualisiert werden.
DP: Ich benutze das Werkzeug des Mappings, um über den Untersuchungsraum hinausreichende Erkenntnisse zu erarbeiten. Das geht im Grunde nur, wenn man es an eine Frage rückkoppelt. Und an der Frage hängt schon ein bestimmter Wissenskörper. Man hat bestimmte Texte gelesen, ist vertraut mit bestimmten Theorien über den Raum. Im Zeichnen versucht man diese zu überprüfen oder nachzuvollziehen. Je nach Wissenskörper ist auch die Lesart eine andere.
KW: Du hast ja im Rahmen der Ausstellung Mapping Along in der metroZones Schule des städtischen Handelns einen Workshop zum Karten Machen gegeben und den zweiten Workshop zum Karten Lesen als Teilnehmende mitgemacht. Wie war das, kannst du das noch einmal rekapitulieren?
DP: Wenn man sich mit den „fertigen“ Karten beschäftigt, spürt man ganz stark die Macht der Kartierenden, die einen durch die Karte leitet. In der Karte werden Haupterzählungen lesbar, die kommen beim genauen Lesen in den Vordergrund. Es erschliesst sich meist ziemlich schnell das, was die Kartenmachenden einem eigentlich erzählen möchten.
KW: Woran macht sich das fest? Hast du da ein Beispiel für diese Erzählung?
DP: Ein banales Beispiel ist die Verwendung von Text. Wen man viel Text in einer Karte verwendet, wird ganz deutlich, dass eine Botschaft vermittelt werden soll. So ähnlich wie Text gibt es graphische Werkzeuge, die sehr schnell und deutlich lesbar sind. Dann gibt es andere Karten, die sich eher zurücknehmen, es der Leserin überlassen, auf welcher Ebene man da einsteigen möchte. Je nach Intention ist einem die ein oder andere lieber oder zugänglicher. Spannender als Projekt ist diejenige Karte, in der es eine Vieldeutigkeit oder auch Unbestimmtheit gibt, bei der die Leserin auf ein offenes System trifft, bei der sie ihre eigene Idee, ihren Kontext einbringen kann.
KW: Du liest am liebsten historische Karten?
DP: Historische Karten sind vor allem ein räumliches Zeugnis einer Zeit, die lange vorbei ist. Man bekommt einen Einblick davon, wie Menschen vor 200, 300 Jahren versuchten, Räume zu erfassen und vermittelbar zu machen.
KW: Ich finde historische Karten auch sehr beeindruckend, auch sie zu lesen, denn da wird deutlich, dass Karten auch Bilder sind und Fragen der Interpretation der Zeichensysteme ganz klar zum Tragen kommen. Wir denken, die Karten stimmen ja nicht, das Schloss ist zu groß, die Mauern sind zu dick, als gäbe es eine „richtige“ Abbildung von Welt in Karte. Aber in jeder Karte findet sich der jeweilige historische Kontext als Interpretationsrahmen. Heute sind die Karten ja nicht wahrer oder richtiger oder neutraler, nur weil es etwa neue Vermessungstechniken gibt. Wie die historischen Karten sind auch sie voller Intentionen, was erzählt werden soll, was die Haupterzählung ist, die Hinweise, wie der Raum zu lesen sei, was das Wichtige ist im Raum, und damit sind auch sie voller Macht.
DP: Ja, es gab eine sehr spezifische Auswahl, was man sich erlaubt hat zu zeigen. Sich dadurch zu denken, welche primär raumbildenden Elementen gezeigt wurden, von einem Raum, den es so nicht mehr gibt. Ich kann in dem Raum noch Spuren finden, mit der Karte kann ich die Essenz herausarbeiten. Mit Bildern, Gemälden finde ich es viel schwerer, vielleicht ist das für Kunsthistorikerinnen anders, aber da ist für mich der Referenzrahmen nicht transparent. In der Karte verstehe ich die Maßstäblichkeit, da habe ich einen festen Referenzrahmen. Natürlich ist das auch ein Handwerk, der Detailreichtum.
KW: Du sagt, der Referenzrahmen Karte – also Perspektive, Strichstärke, Farbe, diese Codes, selbst wenn sie von einer Karte von vor 500 Jahren sind – ist leichter zu lesen als andere symbolische oder ikonografische Elemente?
DP: Die Raumstruktur aus Landmarken und Flächen hat sich oft gar nicht geändert, das sind oft ähnliche Elemente, die unseren Blick im Raum strukturieren, wie wir uns in ihm bewegen. Das Verrückte an der Karte ist die gleichzeitige Darstellung, die ich im Raum ja nur nacheinander erzählen oder abschreiten kann. In der Karte springt einem das alles gleichzeitig entgegen.
KW: Hast du eine historische Lieblingskarte?
DP: Da gibt es einige Lieblingskarten, zum Beispiel der Nolli Plan, der ist verrückt.
KW: Was ist der Nolli Plan und was inspiriert dich daran?
DP: Der Nolli Plan stammt aus dem 18. Jahrhundert von Giovanni Battista Nolli. Nolli hat diesen Plan im Grunde aus einer Landschaftskartierung heraus entwickelt, aus einer sehr detailreichen Kartierung von Landschaft um Rom. Diese Landschaftskartierung ins Urbane zu übertragen und die gebaute Struktur wie eine Landschaft zu kartieren, das ist das Radikale. Im 18. Jahrhundert auf die Idee zu kommen, das klassische Verständnis von Stadt, das sich in bebauten und unbebauten Raum aufspaltet, einfach zu überwinden und quasi eine Art Durchlässigkeit, durch den Raum hindurch zu behaupten, das ist sehr aufregend. Also fast Deleuze-artig begreift Nolli den Raum als etwas, was für uns durchlässig ist. Das ist ja das Gegenteil der frühmodernen frühkapitalistischen Raumauffassungen, Grenzen als durchlässig zu denken. Zeitgenoss:innen konnten das wahrscheinlich gar nicht fassen, was Nolli da konzipiert hat, dass der Innenraum eines Temples oder einer barrocken Kirche gleich zu behandeln wäre wie die Straße, weil er höher als sieben Meter ist.
KW.. … oder weil man da reingehen kann, weil das Tor offen ist…
DP: … ja, aber es gab schon auch Holztüren, riesige Tore, die man aufmachen musste, die zeichnet Nolli nur nicht, als gäbe es die Tür nicht, sie ist nicht von Bedeutung. Die Innenhöfe mit den Zisternen werden Teil vom Straßenmuster. Diese Konzeptionierung widersprach allen Regelwerken…
KW:… das scheint heute unvorstellbar, diese Gleichsetzung zwischen Straße und Tempel als öffentliche Räume….
DP: ….oder es war ein Nachhall einer mittelalterlichen Raumauffassung. Und wenn man im 19. oder 20. Jahrhundert darauf geschaut hat, dachte man, wie crazy, vielleicht dachte Nolli einfach nur: So ist er doch, der Raum.
KW: … und das alles in dem einfachen Code schwarz /weiß?
DP: Ja, es gibt aber auch sehr viel Textur: Gärten, Villenhöfe, Säulen sind verzeichnet, jeder Brunnen, das Wasser. Auf der ersten Ebene sieht man nur schwarz-weiß und wenn man dann genauer reinliest, kommen die ganzen Details.
KW: Auch in den schwarzen Flächen?
DP: Nein, nur in den weissen Flächen, in den offenen oder zugänglichen Räumen der Stadt zeigen sich die Details. Dieses Prinzip haben wir für eine Kartierung des Wrangelkiezes übernommen. Wir haben uns also vom Nolli Plan inspirieren lassen, die Idee der Durchlässigkeit von Raum auf die Nachbarschaft übertragen. Wir haben die lokalen Gewerberäume als sozial-räumliches Gemeingut kartiert. In der Karte kann man in den ausdifferenzierten weißen Flächen die Funktionen der Gewerbeflächen als Orte des Gemeinschaffens lesen. Das ist ganz ähnlich, wie Nolli das gemacht hat, also mit dem Lesen der Nolli Karte haben wir diese Karte vom Wrangelkiez entwickelt.
Das Interview ist der Teil der Publikation Reading the Map. Anleitung zum Kartenlesen von Kathrin Wildner, die den Auftakt der neuen metroZones Reihe metroZines # 1-3 bildet, erschienen im adocs Verlag 2024.
Abbildungen:
1: Giovanni Battista Nolli-Nuova Pianta di Roma (1748) (Ausschnitt), https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Giovanni_Battista_Nolli-Nuova_Pi...(1748)_02-12.JPG
2-4: "Wrangel Kiez Mapping", Ausschnit aus Dagmer Pelger et.al.: Spatial Commons, Berlin 2020
KW: Wenn du Mapping hörst, was fällt dir ein? Woran denkst du?
DP: Ich denke an die Arbeit mit Studierenden. Die besten Seminare habe ich mit Anna Heilgemeir zusammen gemacht. Da trafen zwei gute Techniken aufeinander. Ich habe ein großes Interesse an der genauen Zeichenarbeit, an dem Handwerklichen in der Karte, an der Einbettung in bestehende Referenzsysteme, die sich dann aber doch in der Zeichnung zu verlieren, die schiere Menge an Informationen, die man in einer Gruppe aufs Papier bringen kann. Und Anna bringt einen Action Part rein. Anna stellt kritische Fragen, wirft Themen in die Runde. Sie ist diskursiv während des Prozesses sehr stark, sie reflektiert den Akt des Zeichnens und den öffentlichen Raum, den man da gezeichnet hat. Sie stellt kritische Fragen zu der Verschachtelung zwischen dem erlebten und dem beobachteten Raum und dem abgebildeten Raum, also der Zeichnung, mit der wir dann ja wieder in den Raum gehen.
KW: Du beschäftigst dich ja vor allem mit dem Machen der Karte. Was passiert, wenn die Karte fertig ist bzw. wie liest du Karten?
DP: Das sind zwei ganz verschiedene Tätigkeiten. Im Prozess des Karten Machens mit den Studierenden ist es sehr wichtig, immer wieder die Karte auszubreiten, sie gemeinsam zu lesen, denn man sieht mehr als das, was man glaubte aufzuzeichnen, definitiv.
KW: Was passiert da?
DP: Es entstehen neue Bilder. Es gibt ja den Referenzrahmen, in dem man arbeitet: ein flaches Blatt Papier, das Sortiment an Zeichenwerkzeugen, damit auch eine Eingeschränktheit der Codes und Zeichensysteme wie Strichdicke oder Symbole, auch die Limitiertheit der Maßstäblichkeit. Wenn diese Elemente der Karte dann nebeneinander und auch übereinander auf dem Papier zu liegen kommen, tun sich neue Zusammenhänge auf. Oder es ist vielmehr eine Verdichtung, ein bestimmter Fokus, dessen man sich so vorher unter Umständen gar nicht bewusst war. Dieser Fokus wird durch das Mapping erarbeitet und kommt im Lesen der Karte zum Vorschein. Das hat etwas mit den Referenzsystemen aber auch mit dem Kontext und dem Zeitpunkt des Kartierens zu tun, in einer anderen Stimmung oder mit anderen drei Zeitungsartikeln als Informationen könnte die Karte auch anders aussehen.
KW: Also es gibt die verschiedenen Ebenen: das Sammeln, Übertragen der Daten, das Zeichnen, das entspricht dem Karten-Machen. Lesen sagst du, hat etwas mit der Auswertung der Karte zu tun, beides findet in einem bestimmten Rahmen statt, muss kontextualisiert werden.
DP: Ich benutze das Werkzeug des Mappings, um über den Untersuchungsraum hinausreichende Erkenntnisse zu erarbeiten. Das geht im Grunde nur, wenn man es an eine Frage rückkoppelt. Und an der Frage hängt schon ein bestimmter Wissenskörper. Man hat bestimmte Texte gelesen, ist vertraut mit bestimmten Theorien über den Raum. Im Zeichnen versucht man diese zu überprüfen oder nachzuvollziehen. Je nach Wissenskörper ist auch die Lesart eine andere.
KW: Du hast ja im Rahmen der Ausstellung Mapping Along in der metroZones Schule des städtischen Handelns einen Workshop zum Karten Machen gegeben und den zweiten Workshop zum Karten Lesen als Teilnehmende mitgemacht. Wie war das, kannst du das noch einmal rekapitulieren?
DP: Wenn man sich mit den „fertigen“ Karten beschäftigt, spürt man ganz stark die Macht der Kartierenden, die einen durch die Karte leitet. In der Karte werden Haupterzählungen lesbar, die kommen beim genauen Lesen in den Vordergrund. Es erschliesst sich meist ziemlich schnell das, was die Kartenmachenden einem eigentlich erzählen möchten.
KW: Woran macht sich das fest? Hast du da ein Beispiel für diese Erzählung?
DP: Ein banales Beispiel ist die Verwendung von Text. Wen man viel Text in einer Karte verwendet, wird ganz deutlich, dass eine Botschaft vermittelt werden soll. So ähnlich wie Text gibt es graphische Werkzeuge, die sehr schnell und deutlich lesbar sind. Dann gibt es andere Karten, die sich eher zurücknehmen, es der Leserin überlassen, auf welcher Ebene man da einsteigen möchte. Je nach Intention ist einem die ein oder andere lieber oder zugänglicher. Spannender als Projekt ist diejenige Karte, in der es eine Vieldeutigkeit oder auch Unbestimmtheit gibt, bei der die Leserin auf ein offenes System trifft, bei der sie ihre eigene Idee, ihren Kontext einbringen kann.
Historische Karten
KW: Du liest am liebsten historische Karten?
DP: Historische Karten sind vor allem ein räumliches Zeugnis einer Zeit, die lange vorbei ist. Man bekommt einen Einblick davon, wie Menschen vor 200, 300 Jahren versuchten, Räume zu erfassen und vermittelbar zu machen.
KW: Ich finde historische Karten auch sehr beeindruckend, auch sie zu lesen, denn da wird deutlich, dass Karten auch Bilder sind und Fragen der Interpretation der Zeichensysteme ganz klar zum Tragen kommen. Wir denken, die Karten stimmen ja nicht, das Schloss ist zu groß, die Mauern sind zu dick, als gäbe es eine „richtige“ Abbildung von Welt in Karte. Aber in jeder Karte findet sich der jeweilige historische Kontext als Interpretationsrahmen. Heute sind die Karten ja nicht wahrer oder richtiger oder neutraler, nur weil es etwa neue Vermessungstechniken gibt. Wie die historischen Karten sind auch sie voller Intentionen, was erzählt werden soll, was die Haupterzählung ist, die Hinweise, wie der Raum zu lesen sei, was das Wichtige ist im Raum, und damit sind auch sie voller Macht.
DP: Ja, es gab eine sehr spezifische Auswahl, was man sich erlaubt hat zu zeigen. Sich dadurch zu denken, welche primär raumbildenden Elementen gezeigt wurden, von einem Raum, den es so nicht mehr gibt. Ich kann in dem Raum noch Spuren finden, mit der Karte kann ich die Essenz herausarbeiten. Mit Bildern, Gemälden finde ich es viel schwerer, vielleicht ist das für Kunsthistorikerinnen anders, aber da ist für mich der Referenzrahmen nicht transparent. In der Karte verstehe ich die Maßstäblichkeit, da habe ich einen festen Referenzrahmen. Natürlich ist das auch ein Handwerk, der Detailreichtum.
KW: Du sagt, der Referenzrahmen Karte – also Perspektive, Strichstärke, Farbe, diese Codes, selbst wenn sie von einer Karte von vor 500 Jahren sind – ist leichter zu lesen als andere symbolische oder ikonografische Elemente?
DP: Die Raumstruktur aus Landmarken und Flächen hat sich oft gar nicht geändert, das sind oft ähnliche Elemente, die unseren Blick im Raum strukturieren, wie wir uns in ihm bewegen. Das Verrückte an der Karte ist die gleichzeitige Darstellung, die ich im Raum ja nur nacheinander erzählen oder abschreiten kann. In der Karte springt einem das alles gleichzeitig entgegen.
KW: Hast du eine historische Lieblingskarte?
DP: Da gibt es einige Lieblingskarten, zum Beispiel der Nolli Plan, der ist verrückt.
KW: Was ist der Nolli Plan und was inspiriert dich daran?
DP: Der Nolli Plan stammt aus dem 18. Jahrhundert von Giovanni Battista Nolli. Nolli hat diesen Plan im Grunde aus einer Landschaftskartierung heraus entwickelt, aus einer sehr detailreichen Kartierung von Landschaft um Rom. Diese Landschaftskartierung ins Urbane zu übertragen und die gebaute Struktur wie eine Landschaft zu kartieren, das ist das Radikale. Im 18. Jahrhundert auf die Idee zu kommen, das klassische Verständnis von Stadt, das sich in bebauten und unbebauten Raum aufspaltet, einfach zu überwinden und quasi eine Art Durchlässigkeit, durch den Raum hindurch zu behaupten, das ist sehr aufregend. Also fast Deleuze-artig begreift Nolli den Raum als etwas, was für uns durchlässig ist. Das ist ja das Gegenteil der frühmodernen frühkapitalistischen Raumauffassungen, Grenzen als durchlässig zu denken. Zeitgenoss:innen konnten das wahrscheinlich gar nicht fassen, was Nolli da konzipiert hat, dass der Innenraum eines Temples oder einer barrocken Kirche gleich zu behandeln wäre wie die Straße, weil er höher als sieben Meter ist.
KW.. … oder weil man da reingehen kann, weil das Tor offen ist…
DP: … ja, aber es gab schon auch Holztüren, riesige Tore, die man aufmachen musste, die zeichnet Nolli nur nicht, als gäbe es die Tür nicht, sie ist nicht von Bedeutung. Die Innenhöfe mit den Zisternen werden Teil vom Straßenmuster. Diese Konzeptionierung widersprach allen Regelwerken…
KW:… das scheint heute unvorstellbar, diese Gleichsetzung zwischen Straße und Tempel als öffentliche Räume….
DP: ….oder es war ein Nachhall einer mittelalterlichen Raumauffassung. Und wenn man im 19. oder 20. Jahrhundert darauf geschaut hat, dachte man, wie crazy, vielleicht dachte Nolli einfach nur: So ist er doch, der Raum.
KW: … und das alles in dem einfachen Code schwarz /weiß?
DP: Ja, es gibt aber auch sehr viel Textur: Gärten, Villenhöfe, Säulen sind verzeichnet, jeder Brunnen, das Wasser. Auf der ersten Ebene sieht man nur schwarz-weiß und wenn man dann genauer reinliest, kommen die ganzen Details.
KW: Auch in den schwarzen Flächen?
DP: Nein, nur in den weissen Flächen, in den offenen oder zugänglichen Räumen der Stadt zeigen sich die Details. Dieses Prinzip haben wir für eine Kartierung des Wrangelkiezes übernommen. Wir haben uns also vom Nolli Plan inspirieren lassen, die Idee der Durchlässigkeit von Raum auf die Nachbarschaft übertragen. Wir haben die lokalen Gewerberäume als sozial-räumliches Gemeingut kartiert. In der Karte kann man in den ausdifferenzierten weißen Flächen die Funktionen der Gewerbeflächen als Orte des Gemeinschaffens lesen. Das ist ganz ähnlich, wie Nolli das gemacht hat, also mit dem Lesen der Nolli Karte haben wir diese Karte vom Wrangelkiez entwickelt.
Das Interview ist der Teil der Publikation Reading the Map. Anleitung zum Kartenlesen von Kathrin Wildner, die den Auftakt der neuen metroZones Reihe metroZines # 1-3 bildet, erschienen im adocs Verlag 2024.
Abbildungen:
1: Giovanni Battista Nolli-Nuova Pianta di Roma (1748) (Ausschnitt), https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Giovanni_Battista_Nolli-Nuova_Pi...(1748)_02-12.JPG
2-4: "Wrangel Kiez Mapping", Ausschnit aus Dagmer Pelger et.al.: Spatial Commons, Berlin 2020