Patina
Patina
Oberflächenbetrachtungen
Fotos und Text: Joachim Spurloser
„Oft scheint uns der Sinn der Tiefe darin zu liegen, die Oberfläche zu erzeugen, die regenbogenfarbige Haut der Welt, deren Anblick uns drängend bewegt. Dann wiederum scheint dieses bunte Muster uns nur aus Zeichen und Buchstaben gefügt, durch welche die Tiefe zu uns von ihren Geheimnissen spricht." (Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz)
Der Stadtbewohner tastet im Gang durch die physische Präsenz der urbanen Landschaft deren Gründe, Fassaden und Mauern ab, in seiner Wahrnehmung ihrer visuellen und taktilen Kennzeichen entwickelt er eine soziale Beziehung zu seiner Umgebung. In einem Verhältnis von Distanz und Nähe erspürt er den Raum und läßt sich von Orten einladen oder abweisen. Auf einer glatten Wand gleitet der Blick entlang, derweil Abweichungen und Unregelmäßigkeiten ihn auf sich ziehen. Wenn wir den Körper der Stadt, wie Mădălina Diaconu, als urbane Dermatologen erkunden, so stellen wir eine Verwandtschaft zu Prozessen und Praktiken fest, die mit Berührungen einhergehen. Berühren Witterung und Menschen die Blöße der Stadt, so zeigen sich ihre epidemischen Grenzen als sensibel und verwundbar. Auf ihnen werden verschiedene materielle Zustände sichtbar und es überlagern sich mannigfaltige Zeichen, ob wir ihnen Sinn beimessen oder nicht. Die Veränderungen durch manuelle und klimatische Kontakte, die Ablagerungen unterschiedlicher Stoffe als auch die Spuren der Benutzung rufen etwas atmosphärisch ins Gedächtnis und beeinflussen unsere Identifikation mit der Stadt.
Die Haut der Stadt bewirkt Gemütsbewegungen, in der Wahrnehmung von geordneten oder chaotischen, versiegelten oder spröden, kalten oder warmen, spiegelglatten oder gebrochenen, einwandfreien oder ruinierten Außenseiten werden Stimmungen und Gefühle moduliert. Andererseits rufen die Materialien, Gestaltungen und Anstriche, der uns umgebenden Architekturen und Stadtmöbel in seinen Bewohnern nicht nur Emotionen hervor. Ihre Oberflächen wecken Neugier oder verführen sogar dazu mit ihnen in den Dialog zu treten. Die Handlungen, die an ihnen vorgenommen werden, reichen vom Erkunden zum Verwunden. Zum Beispiel werden scheinbar unbedeutende und nichts sagende Winkel, Vorsprünge, Ecken und Nischen von Menschen und Tieren als nutzbare Zonen ausgemacht, an denen sie sich reiben, Markierungen setzen und Nester bauen. Sie schreiben sich in eine greifbare Leere ein und machen sie zu ihrer Behausung. Unter bestimmten klimatischen Verhältnissen nehmen Flechten, Algen und Moose ganz natürlich Teil am belebten Erscheinungsbild der Stadt, welches durch den Wechsel der Jahreszeiten noch dynamisiert wird. Der nassmodrige Film oder die blühende Wand stehen im Gegensatz zu verspiegelten Glasfassaden, welche die realen Lebensbedingungen dahinter verschleiern. Selbstklimmende Ranken und Pflanzen mit Haftwurzeln, wie Efeu, Kletterhortensien und Trompetenwinden begrünen Wände vertikal. Sie können als Ausdruck von unbändiger Kraft und kreativer Unordnung das Undurchlässige und Statische von Mauern vergessen machen. Vom Wind bewegte Äste, verirrtes Regenwasser und ausbleichendes Sonnenlicht verändern das Antlitz der Architektur gleichwie Menschen den gebauten Raum nicht als naturgegeben betrachten und ihn produktiv umnutzen. Die Suche nach den Sollbruchstellen der urbanen Hülle wird nicht selten vom Zufall und dem Unbewußten entfacht. Plötzlich erscheinen die Segmente von Schallschutzwänden als neu zusammengesetztes Puzzle, eine ungestüme Ballung von schwarzen Flecken deutet einen mehrdimensionalen Parkours an oder im Abrieb einer getilgten Malerei tauchen ehemals versiegelte Schichten als Gestalt auf.
Obwohl sich Mauern uns in den Weg stellen und unüberwindbar erscheinen, eröffnen sie einen Horizont der Überschreitung. Die innere Unruhe und depressiven Stimmungen, die sich in den Städten aufstauen, äußern sich in spröden Ausschlägen, Kontaktekzemen und aufgekratzten Stellen. Nicht zuletzt können sanktionierte Verletzungen und listige Fehlbehandlungen auch als die Fußnoten einer Repräsentationskritik gelesen werden, die den Körper der Stadt als den eigenen, abseits von funktionalen und institutionellen Markierung zurückerobern.
„'Fassade' meint Gesicht, und zwar jenes Gesicht, unter dem sich Gebäude maskieren, um ein öffentliches Ansehen zu haben und eine Rolle zu spielen.“ (Vilém Flusser)
Erzeugt der Architekt durch Farben, Baustoffe, Oberflächengestalt und Linienführung repräsentative Atmosphären, so verdichtet sich die lebendige Haut der Stadt absichtslos und anonym im Zusammenspiel von Material, Zeit und Berührungen. Ihre Ablagerungen und Verletzungen können als Wirkungsgeschichte wahrgenommen werden, wobei Einschläge von Schüssen, Kratzer und Risse Gesten aufnehmen und Zeit bewahren. Wir erschrecken beim Blick in die offene Wunde, wenn wir in das Innere eines Gebäudes schauen können, deren intime Welt nicht nicht mehr vor äußeren Einflüssen geschützt werden kann. Abbruchhäuser mit fehlenden Fenstern starren aus leeren Augenhöhlen, aufgeschnittene Stuben aus denen häusliche Eingeweide quellen, verströmen den Geruch der Schlacht um Wohnraum. In den Gedärmen hängt der Atem des Lebens. In verblassten Farbresten, Umrissen und Flecken kann sich jeder das Ende seines eigenen Heimes zusammenreimen.
Die prozessualen Ablagerungserscheinungen auf der urbanen Haut, ihre Patina erinnert an die stetige Hervorbringung von gelebtem Raum. Die physische Erkundung der städtischen Oberflächen kann eine haptische Aisthesis zu Tage bringen. Möglicherweise erzählen die taktilen Qualitäten der Mauern vom Wechselspiel zwischen Innen und Außen, latenten Emotionen und offensichtlichen Konflikten. Um die seelische Verfassung der Stadt zu erforschen, auch um auf die emotionalen Hintergründe und das Befinden ihrer Bewohner schließen zu können, bedarf es eines tastenden Blicks in die Tiefenschichten der Zeit.
Der Text wurde erstmals veröffentlicht im Magazin Der Edelstein in der Ausgabe Wand herausgegeben von Emmett. E., Berlin 2016/2020.
Der Stadtbewohner tastet im Gang durch die physische Präsenz der urbanen Landschaft deren Gründe, Fassaden und Mauern ab, in seiner Wahrnehmung ihrer visuellen und taktilen Kennzeichen entwickelt er eine soziale Beziehung zu seiner Umgebung. In einem Verhältnis von Distanz und Nähe erspürt er den Raum und läßt sich von Orten einladen oder abweisen. Auf einer glatten Wand gleitet der Blick entlang, derweil Abweichungen und Unregelmäßigkeiten ihn auf sich ziehen. Wenn wir den Körper der Stadt, wie Mădălina Diaconu, als urbane Dermatologen erkunden, so stellen wir eine Verwandtschaft zu Prozessen und Praktiken fest, die mit Berührungen einhergehen. Berühren Witterung und Menschen die Blöße der Stadt, so zeigen sich ihre epidemischen Grenzen als sensibel und verwundbar. Auf ihnen werden verschiedene materielle Zustände sichtbar und es überlagern sich mannigfaltige Zeichen, ob wir ihnen Sinn beimessen oder nicht. Die Veränderungen durch manuelle und klimatische Kontakte, die Ablagerungen unterschiedlicher Stoffe als auch die Spuren der Benutzung rufen etwas atmosphärisch ins Gedächtnis und beeinflussen unsere Identifikation mit der Stadt.
Die Haut der Stadt bewirkt Gemütsbewegungen, in der Wahrnehmung von geordneten oder chaotischen, versiegelten oder spröden, kalten oder warmen, spiegelglatten oder gebrochenen, einwandfreien oder ruinierten Außenseiten werden Stimmungen und Gefühle moduliert. Andererseits rufen die Materialien, Gestaltungen und Anstriche, der uns umgebenden Architekturen und Stadtmöbel in seinen Bewohnern nicht nur Emotionen hervor. Ihre Oberflächen wecken Neugier oder verführen sogar dazu mit ihnen in den Dialog zu treten. Die Handlungen, die an ihnen vorgenommen werden, reichen vom Erkunden zum Verwunden. Zum Beispiel werden scheinbar unbedeutende und nichts sagende Winkel, Vorsprünge, Ecken und Nischen von Menschen und Tieren als nutzbare Zonen ausgemacht, an denen sie sich reiben, Markierungen setzen und Nester bauen. Sie schreiben sich in eine greifbare Leere ein und machen sie zu ihrer Behausung. Unter bestimmten klimatischen Verhältnissen nehmen Flechten, Algen und Moose ganz natürlich Teil am belebten Erscheinungsbild der Stadt, welches durch den Wechsel der Jahreszeiten noch dynamisiert wird. Der nassmodrige Film oder die blühende Wand stehen im Gegensatz zu verspiegelten Glasfassaden, welche die realen Lebensbedingungen dahinter verschleiern. Selbstklimmende Ranken und Pflanzen mit Haftwurzeln, wie Efeu, Kletterhortensien und Trompetenwinden begrünen Wände vertikal. Sie können als Ausdruck von unbändiger Kraft und kreativer Unordnung das Undurchlässige und Statische von Mauern vergessen machen. Vom Wind bewegte Äste, verirrtes Regenwasser und ausbleichendes Sonnenlicht verändern das Antlitz der Architektur gleichwie Menschen den gebauten Raum nicht als naturgegeben betrachten und ihn produktiv umnutzen. Die Suche nach den Sollbruchstellen der urbanen Hülle wird nicht selten vom Zufall und dem Unbewußten entfacht. Plötzlich erscheinen die Segmente von Schallschutzwänden als neu zusammengesetztes Puzzle, eine ungestüme Ballung von schwarzen Flecken deutet einen mehrdimensionalen Parkours an oder im Abrieb einer getilgten Malerei tauchen ehemals versiegelte Schichten als Gestalt auf.
Obwohl sich Mauern uns in den Weg stellen und unüberwindbar erscheinen, eröffnen sie einen Horizont der Überschreitung. Die innere Unruhe und depressiven Stimmungen, die sich in den Städten aufstauen, äußern sich in spröden Ausschlägen, Kontaktekzemen und aufgekratzten Stellen. Nicht zuletzt können sanktionierte Verletzungen und listige Fehlbehandlungen auch als die Fußnoten einer Repräsentationskritik gelesen werden, die den Körper der Stadt als den eigenen, abseits von funktionalen und institutionellen Markierung zurückerobern.
„'Fassade' meint Gesicht, und zwar jenes Gesicht, unter dem sich Gebäude maskieren, um ein öffentliches Ansehen zu haben und eine Rolle zu spielen.“ (Vilém Flusser)
Erzeugt der Architekt durch Farben, Baustoffe, Oberflächengestalt und Linienführung repräsentative Atmosphären, so verdichtet sich die lebendige Haut der Stadt absichtslos und anonym im Zusammenspiel von Material, Zeit und Berührungen. Ihre Ablagerungen und Verletzungen können als Wirkungsgeschichte wahrgenommen werden, wobei Einschläge von Schüssen, Kratzer und Risse Gesten aufnehmen und Zeit bewahren. Wir erschrecken beim Blick in die offene Wunde, wenn wir in das Innere eines Gebäudes schauen können, deren intime Welt nicht nicht mehr vor äußeren Einflüssen geschützt werden kann. Abbruchhäuser mit fehlenden Fenstern starren aus leeren Augenhöhlen, aufgeschnittene Stuben aus denen häusliche Eingeweide quellen, verströmen den Geruch der Schlacht um Wohnraum. In den Gedärmen hängt der Atem des Lebens. In verblassten Farbresten, Umrissen und Flecken kann sich jeder das Ende seines eigenen Heimes zusammenreimen.
Die prozessualen Ablagerungserscheinungen auf der urbanen Haut, ihre Patina erinnert an die stetige Hervorbringung von gelebtem Raum. Die physische Erkundung der städtischen Oberflächen kann eine haptische Aisthesis zu Tage bringen. Möglicherweise erzählen die taktilen Qualitäten der Mauern vom Wechselspiel zwischen Innen und Außen, latenten Emotionen und offensichtlichen Konflikten. Um die seelische Verfassung der Stadt zu erforschen, auch um auf die emotionalen Hintergründe und das Befinden ihrer Bewohner schließen zu können, bedarf es eines tastenden Blicks in die Tiefenschichten der Zeit.
Der Text wurde erstmals veröffentlicht im Magazin Der Edelstein in der Ausgabe Wand herausgegeben von Emmett. E., Berlin 2016/2020.